Tote irgendwo im Nirgendwo
Spuren aus der NS-Zeit: Widerstandskämpfer hingerichtet, zerstückelt, „verwertet“, verbrannt, anonym vergraben – auf der Suche nach Gräbern und nach Wegen, den Opfern ein wenig von ihrer Würde zurückzugeben.
Wuppertal im Bergischen Land, Deweertscher Garten. Am Mahnmal für die in braunen Unzeiten ermordeten Töchter und Söhne der Stadt versammeln sich heute gegen 17.30 Uhr Bürger, um an Ewald Funke zu erinnern. Er war in den frühen Morgenstunden des 4. März 1938 – vor 70 Jahren – hingerichtet worden. Mit dem Tod durch das Fallbeil ahndete der Volksgerichtshof die »Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens«, wie es im Urteil hieß. 2890 Menschen teilten nach offiziellen Angaben das Schicksal des damals 32-jährigen Wuppertalers in Plötzensee.
Ein oder zwei Stunden später lagen diese Opfer in der Berliner Universität (heute Charité) auf den Seziertischen des Anatomischen Institutes. Ihre Körper wurden zerstückelt, zur Ausbildung und zu Forschungszwecken benutzt, Präparate aus Schädeln, Körperteilen und Knochen gefertigt, die »nicht verwertbaren Reste« verbrannt, die Urnen anonym verscharrt, irgendwo im Nirgendwo der umliegenden Friedhöfe.
Unbekannte Aschen
In der Hauptstadt wird man am heutigen Tage an Ewald Funke denken, aber keine Blumen niederlegen. Man wüsste gar nicht, wo. Denn die Suche nach Begräbnisorten ist mühselig. Klaus Leutner, der sich als Berliner »Laienhistoriker« sieht, stieß bei seinen Recherchen auf Dokumente, die den Verbleib eines Teils der unbekannten Aschen aus Plötzensee aufklären. »In einem Bestattungsbuch des Städtischen Friedhofs von Altglienicke fand sich ein Eintrag über 80 Urnen«, berichtet der Rentner. Leutner wälzt Akten, müht sich, krakelige oder verschmierte Schriftzüge in Sütterlin zu entziffern. »Ich möchte den Toten ihre Ehre, einen Namen und eine Grabstätte wiedergeben.« Inzwischen hat er sich durch viele Einäscherungsbücher gearbeitet. Für die drei Krematorien, die es zwischen 1933 und 1945 in Berlin gab (Wedding, Treptow und Wilmersdorf), bedeutet das, 120 000 Namen zu prüfen.
Alles in allem sammelte Leutner 3112 Namen der Opfer von Plötzensee, mehr also als in der offiziellen Version. Über jeden der Hingerichteten finden sich Details, etwa Tag der Geburt, Profession und Herkunft. Im elektronischen Eintrag zu Ewald Funke ist überdies ein Abschnitt aus einem Hinrichtungsbuch vermerkt, das im Bundesarchiv liegt. Im Mord-Protokoll zeichneten die Nazis in Diensten der völkischen Wissenschaften Details über den physischen und psychischen Zustand ihres Opfers auf. Welche Experimente waren hier vorbereitet worden?
Tatsächlich hatte die Nazi-Justiz Plötzensee zum bevorzugten Ort der Vollstreckung ihrer Todesurteile gemacht. Zwischen 1933 und 1936 starben 45 Menschen auf dem Gefängnishof durch das Handbeil. 1937 ließ Hitler, der sich persönlich um Abläufe im Gefängnistrakt kümmerte, eine Guillotine aufbauen, wie in der Gedenkstätte am Orte festgehalten ist. Der Justizvollzug stellte sich auf die zunehmende Zahl der Todesurteile ein. Noch im gleichen Jahr richtete man mit der Mordmaschine 37, im folgenden Jahr 56 und 1939 dann 95 Verurteilte hin. An manchen Tagen kam es später zum Justizmord im Drei-Minuten-Takt. 1942 wurde ein Stahlträger in die Wände des Hinrichtungsraumes eingezogen, um zunächst Verurteilte der Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« zu strangulieren, später die Offiziere des 20. Juli.
Den Henkern wurde jährlich eine Vergütung von 3000 Reichsmark zugedacht, heißt es in der Gedenkstätte, dazu pro Hinrichtung weitere 60 bis 65 Reichsmark. Und die Angehörigen der Ermordeten ließ man zahlen: 300 Reichsmark für die Hinrichtung, für das Porto zur Übersendung der Rechnung 12 Pfennige, für jeden Hafttag 1,50 Reichsmark.
Ewald Funke verbrachte über 700 Hafttage im KZ Dachau und anderswo, zuletzt in Plötzensee. Zu den eher guten Tagen im Knast, wenn es so etwas überhaupt gibt, zählte er jene, an denen er um 6 Uhr aufstand, Übungen gegen das Einrosten machte, zum Frühstück den »Völkischen Beobachter« las, »genau wie der Herr Kommerzienrat«. Nur das Frühstück unterscheide sich, spöttelte er in einem Brief an die Eltern und die Brüder Kurt und Otto. Sodann eine Stunde 5,5 Meter auf und ab, französische Grammatik, wieder Spaziergang – tagaus, tagein. Selten genug gelangte Post zur Familie, wurde »wegen ironischen Untertons« beschlagnahmt, wie die Gefängnisaufsicht in einem Aktenvermerk festhielt.
Opfer als »Werkstoff«
Doch die schlimmen Tage blieben nicht aus – stundenlange Verhöre, der Inhaftierte wurde zusammengeschlagen und gefoltert, immer wieder. Die Gestapo wollte bestätigt haben, was sie durch »Aussagen« anderer Gefolterter längst wusste. Nämlich, dass Ewald Funke jener »Heinz« war, der die Abteilung Militärpolitik (AM), den geheimen Sicherheitsapparat der KPD, in Wuppertal und später im Bezirk Niederrhein geleitet hatte, zu sozialdemokratischen und katholischen Kreisen Verbindungen knüpfte, zu Gewerkschaftern, Polizisten und in die Arbeiterschaft von Rüstungsfirmen. Und dass er in Flugschriften veröffentlichte, was er aus den geheimen Quellen über Absichten der Nazis erfuhr, dass er illegale Wohnungen beschafft hatte, in denen von der Verhaftung bedrohte Kampfgefährten für gewisse Zeit unterkamen, bis sie über die Grenze gebracht werden konnten. Zu ihnen gehörte Wilhelm Pieck.
Die Gestapo nahm »Heinz« im Mai 1936 fest, als er dabei war, die zerschlagenen Strukturen der KPD im Großraum Stuttgart wieder aufzubauen. Ein V-Mann in der Stuttgarter KPD-Widerstandsleitung hatte ihn verraten. Der Volksgerichtshof unter Vorsitz seines Präsidenten Dr. Thierack, als Beisitzer SS- und SA-Leute, verurteilte Ewald Funke am 16. August 1937 »im Namen des Deutschen Volkes« zum Tode. Ein halbes Jahr später starb er unter dem Fallbeil. Ab hier verliert sich seine Spur wie die der anderen Hingerichteten auf dem Weg in das Anatomie-Institut des zwielichtigen Professors Hermann Stieve – einem Freikorpsmitglied und Deutsch-Nationalen. Der namhafte Wissenschaftspublizist Hoimar von Ditfurth erinnerte sich, dass es bei seinem Studium damals nie zu einem Mangel an Leichen gekommen sei: »Es waren ganz überwiegend Leichen von jungen, gesunden Männern… ohne Köpfe.« 1938 schrieb Stieve: »Durch die Hinrichtungen erhält das … Institut einen Werkstoff, wie ihn kein anderes Institut der Welt besitzt.« Vor allem auch für sein bevorzugtes Forschungsgebiet, die Gynäkologie, profitierte der Professor von der »zeitnahen Anlieferung« von Frauenleichen, denen er Eierstöcke und Gebärmutter entnahm. In einer Fachzeitung publizierte er 1942 über »Die Wirkung von Gefangenschaft und Angst auf den Bau und die Funktion der weiblichen Geschlechtsorgane«. Nach dem Krieg berichtete Stieve über eine 22-jährige Frau, deren Monatsblutung »infolge starker nervöser Erregung« elf Monate lang ausgeblieben war. Aber plötzlich trat »im Anschluss an eine Nachricht, die die Frau sehr stark erregt hatte (das Todesurteil, d. Red.), eine Schreckblutung ein.«
Weitere Details über die Verwertung der Körper von Widerstandskämpfern in der Berliner Anatomie wurden nicht bekannt. Das Leichenbuch, das Auskunft hätte geben können, hatten Stieve, sein Gefolge am Institut oder anderswer offenbar vernichtet. Einer seiner Mitarbeiter wurde von sowjetischer Seite festgenommen und blieb verschollen. So konnte auch Stieve nach dem Krieg seine wissenschaftliche Karriere an der Humdoldt-Universität fortsetzen. Ohne Leichenbuch konnte ihm die »gezielte Vernutzung« der Widerstandskämpfer nicht nachgewiesen werden. Als er behauptete, er hätte die Leichen der Offiziere vom 20. Juli nicht angerührt und andere ihm persönlich bekannte Opfer lediglich seziert, aber keiner anderen Verwendung zugeführt, blieb dies mangels gegenteiliger Beweises unwidersprochen.
1952 starb Stieve. Im Nachruf eines Pathologen namens Rössler hieß es: »Was …die Anatomie ihm bot, machte er durch Deutung in Worte und Schrift wieder lebendig. Die Leichen stammten von Unglücksfällen oder von Menschen, die wegen gemeiner Verbrechen ... von regulären Gerichten zum Tode verurteilt waren.« Auch das ND bescheinigte Stieve damals, ein Gutmensch, ein »wirklich großer Führer der Wissenschaft gewesen« zu sein. »Groß waren seine Taten und überreich ist das Erbe, das er uns hinterlassen hat und das zu verwalten uns zur Ehre gereicht«, floss es aus der Feder eines Professor Kirsche.
Kein Gedenkort
Wenn man heute in Wuppertal Ewald Funkes und der anderen Ermordeten von Plötzensee gedenkt, wird auch von einem Projekt die Rede sein, das sich derzeit gründet. »Es ist traurig, dass es für diese Opfer keinen Ort gibt, an dem ihrer gedacht werden kann«, sagt der Historiker Stephan Stracke von der Forschungsgruppe Wuppertaler Widerstand, die gemeinsam mit der gleichenorts ansässigen VVN-BdA nach Spuren zu Grabstellen sucht. Anfang Juni wollen die Wuppertaler in Berlin mit Angehörigen von Plötzensee-Opfern und Vertretern von Verfolgtenverbänden die Situation erörtern. Nötig sei eine Auswertung aller Friedhofs- und Krematoriumsbücher im Raum Berlin. Würdige Erinnerungszeichen an Gräberfeldern könnten aufgestellt und Hinweistafeln in der Gedenkstätte Plötzensee und in der Charité über den Verbleib der »verwerteten« Opfer angebracht werden. Man will Berliner Geschichtsinstitute zum Mittun bewegen sowie den Senat und zuständige Bundesministerien an ihre Verantwortung erinnern. Auch internationale Verbände des antifaschistischen Widerstands sollen an dem Projekt beteiligt werden. Denn die Hälfte der Opfer von Plötzensee stammt aus der Tschechoslowakei, aus Polen, Frankreich und anderen Teilen des nazideutsch besetzten Europa.
Kontakt: Stephan Stracke, E-Mail info@wuppertaler-widerstand.de
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