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  • Der Preis der Leipziger Buchmesse

Ein Gefühl von Flüchtigkeit

Sherko Fatah: Ein verstörender Roman

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 3 Min.
Sherko Fatah: Sein Roman »Das dunkle Schiff« erschien im Verlag Jung und Jung (440 S., geb., 22 EUR).
Sherko Fatah: »Das dunkle Schiff«
Sherko Fatah: »Das dunkle Schiff«

Doch war es weniger die Trauer, die von ihm Besitz ergriffen hatte, als ein Gefühl der Flüchtigkeit. In einem Augenblick verlor er seine Vergangenheit, alles, was mit ihm verwachsen schien bis dahin, lockerte sich und fiel von ihm ab.« – Es ist ein Schlüsselsatz, der sich auf Seite 158 verbirgt. Er verweist auf das Gefühl, das bleibt, wenn man die letzte Seite in Sherko Fatahs »Das dunkle Schiff« umgeblättert hat und das Buch ein wenig ratlos, fast grübelnd, zur Seite legt. Man möchte nicht, dass es die letzte Seite ist. Denn es gibt keine Auflösung. Nichts ist klar. Vielleicht sollte man ein wenig warten. Bis es sich setzt.

Der rote Faden, der sich schon durch die früheren Romane des irakisch-deutschen Autors Sherko Fatah zog, angefangen mit seinem Erstling »Im Grenzland«, für den er 2001 den Aspekte-Literaturpreis bekam, findet sich auch in seinem neuesten Werk: Viele Geschichten fügen sich zu einem Ganzen, das dennoch eine beruhigende Antwort – Es ist nur Fiktion! – schuldig bleibt.

Zu nah am Leben spielt auch die Geschichte des Kerim, Iraker, Alevit. Ein dicker Junge, Sohn eines wortkargen, strengen Kochs, der zwar nicht gläubig ist, doch den Schein wahrt. Der Vater stirbt, der Sohn übernimmt das kleine Restaurant irgendwo in der Nähe von Bagdad. Dann: 2003, US-Invasion, Krieg. Kerim wird von »Gotteskriegern« entführt und schließt sich ihnen – zuerst zögerlich, dann scheinbar entschlossen – an. Ob er von dem, was er tut, überzeugt ist, bleibt jedoch vage. Freiwillig für den Weg ins versprochene Paradies meldet er sich jedenfalls nicht. Vielmehr flieht er. Illegal, mit falschem Pass, teuer für Schlepper bezahlend. Berlin, Deutschland, ist sein Ziel. Denn dort lebt sein Onkel Tarik.

Was aus dem zweiten blinden Passagier wird, den Kerim unterwegs trifft – Tony aus einem ungenannten afrikanischen Land – bleibt ebenso dunkel wie der Schiffsbauch, in dem beide ins rettende Europa gelangen wollen. Kerim beantragt Asyl – das ihm am Ende gewährt wird – und lernt Sonja kennen. Lieben sie sich? Haben sie eine Chance? Was verbindet sie? Auch das weiß man nicht.

Kerim ist auch mit dem Dschihad noch nicht fertig. In einer Moschee, die unter anderem Treffpunkt zukünftiger Märtyrer ist, begegnet er einem alten Bekannten wieder. Und einem Freund, der – vielleicht – sein Mörder werden wird. Späte Strafe dafür, dass er einst einen guten Freund seines Vaters an die Schergen Saddam Husseins verriet.

Ein verstörender Roman. Weil die komplexen Dinge des Lebens sich nicht im simplen Schwarz-Weiß erklären lassen. Ein faszinierender Roman. Weil der erste Blick – Ach! Islamisten!, Ach! Krieg in Irak!, Ach! Migranten in Deutschland! – so kolossal täuscht. Je alltagsnäher und dokumentarischer Sherko Fatah schreibt, desto weiter entführt er den Leser in die Welt der Fantasie. Und konfrontiert ihn mit der ewigen Frage nach der Wahrheit und den Welten.

Sherko Fatah wurde 1964 in Berlin/DDR als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen geboren. Er lebte in Wien und West-Berlin, studierte Kunstgeschichte und Philosophie. »Das dunkle Schiff« erschien bei Jung und Jung in Österreich.

Sherko Fatah: Sein Roman »Das dunkle Schiff« erschien im Verlag Jung und Jung (440 S., geb., 22 EUR).

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