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Massenflucht vor dem »Volkszorn«

Italien: Pogrome in Lagern von Roma und Sinti mit offizieller Duldung

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 4 Min.

Diese Bilder kann und sollte man so schnell nicht vergessen: In Neapel, Stadtteil Ponticelli, stehen Menschen, auch viele Kinder darunter, an einem Zaun und sehen zu, wie dahinter Wellblechbaracken und Wohnwagen lichterloh brennen. Dazwischen huschen verschreckte Leute umher und versuchen, ihre Habseligkeiten irgendwie in Sicherheit zu bringen.

Und die Menschen am Zaun jubeln und klatschen über jedes Auto, das vollbepackt das Lager beziehungsweise das, was noch davon übrig ist, verlässt. Und all das wird von uniformierten Polizisten beäugt, die nichts unternehmen.

In dem Lager lebten Roma und Sinti. Nomaden, wie man sie in Italien nennt, viele Rumänen, einige Serben und nicht wenige Italiener. »Das Volk war aufgebracht«, heißt es jetzt. Aufgebracht, weil angeblich ein 16-jähriges »Zigeunermädchen« versucht hatte, ein Baby aus einer neapolitanischen Wohnung zu stehlen. Die Medien haben in ihren Aufmachungen über diese »unglaubliche Tat« berichtet.

»Roma klaut Baby« konnte man überall lesen und hören. Und nirgendwo wurde die Episode hinterfragt. Hatte das junge Mädchen vielleicht psychische Probleme? Hatte es irgendetwas falsch verstanden, was die Mutter des Kindes, die es schon länger kannte, gesagt hatte? Wollte es vielleicht wirklich nur einen Spaziergang mit dem Baby machen, wie es ausgesagt hat? Diese Fragen wurden in den Medien nicht gestellt.

»Roma klaut Baby« war die alleinige Aussage und »das Volk« warf Brandflaschen in das Camp, in dem das Mädchen seit vielen Jahren lebte. Zwischen den brennenden Baracken nur einige junge Leute – Freiwillige von Menschenrechtsorganisationen –, die verzweifelt versuchten, irgendwo irgendwelche Verantwortlichen zu erreichen: Im Polizeipräsidium, im Rathaus, bei der Caritas ... Vergeblich. Und als die letzten Roma abzogen, irgendwohin, wo sie sich sicherer fühlen könnten, wurde in Ponticelli erneut gezündelt. Diesmal allerdings Feuerwerkskörper, um das »Verjagen der Nomaden« wie ein Volksfest zu feiern.

Einen Tag später schwappte der »Volkszorn« dann auch auf andere Städte wie Rom über. Auch hier wurden Roma und Sinti angegriffen, ihre Camps belagert, sodass es viele vorzogen, die Gegend zu verlassen. Andere blieben verstört und resigniert vor ihren Wohnwagen sitzen. Und da die Polizei kaum etwas für ihre Sicherheit tat, organisierten sie vor den Camps eigene Patrouillen.

Nun kann man allerdings nicht sagen, dass die Ordnungskräfte insgesamt tatenlos blieben. In denselben Stunden, in denen die Roma und Sinti um ihr Leben bangen mussten, rückten sie in einer groß angelegten Operation gegen »kriminelle Ausländer« aus. Damit waren allerdings weder russische Mafiosi noch kolumbianische Drogenhändler gemeint, sondern wieder in erster Linie »Nomaden« und »Rumänen« allgemein, was in Italien inzwischen zum Synonym für »Kriminelle« geworden ist. Camps wurden mit riesigem Polizeiaufgebot durchsucht und schließlich 413 Personen festgenommen – Menschen, die sich nicht ausweisen konnten, Leute ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung, sogenannte Illegale, die unrechtmäßig nach Italien eingereist waren.

Dies war der Auftakt des neuen »harten Kurses« in der Sicherheitspolitik, den die neue Regierung auf ihre Fahnen geschrieben hat. Gleichzeitig wurden in Städten wie Mailand und Rom auch »Sonderbeauftragte für das Nomadenproblem« ernannt – natürlich nicht, um diese Menschen vor Übergriffen zu schützen, sondern um die guten Bürger gegen dieses »Gesocks« zu verteidigen. Wäre man zynisch, könnte man sagen, dass im Land der Mafia, der 'Ndrangheta und der Camorra die Mikrokriminalität der Roma und Sinti offensichtlich den größten Notstand darstellt. Was dabei jedem um Neutralität bemühten Beobachter auffallen muss (mal angenommen, dass man vor solchen Szenen als Beobachter Neutralität an den Tag legen kann und soll), ist, dass es im Land praktisch keine Reaktionen auf diese Vorfälle gegeben hat. Einige Medien haben sie schlicht unter »ferner liefen« vermeldet; andere (wie die Zeitung »Il Giornale«, die Silvio Berlusconis Bruder Paolo gehört) brachten sogar auf der Titelseite Artikel mit der Überschrift »Die Zigeuner im Ferrari – eine Liste der Nomaden, die in Luxusvillen wohnen«.

Aber auch auf institutioneller Ebene tat sich fast nichts. Kein Aufschrei, keine Proteste, kein Oppositionspolitiker, der gegen diesen Rassismus aufgestanden wäre. In der parlamentarischen Opposition war man vielmehr damit beschäftigt, Berlusconis »Dialogangebot« zu kommentieren und das »neue Klima zwischen Mehrheit und Opposition« zu feiern. Selbst der Staatspräsident blieb still. Man könnte es Grabesstille nennen.

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