Texte, besser als die Jury

Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb beendet – Doppelsieg für Tilman Rammstedt

  • Harald Loch, Klagenfurt
  • Lesedauer: 5 Min.

Die 32. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt sind am Sonnabend mit der Preisverleihung zu Ende gegangen. Jeder der sieben Juroren hatte aus Hunderten von Bewerbern zwei zu diesem Wettbewerb einladen können, der – einmalig auf der Welt – in voller Länge live auf 3sat übertragen wurde. Erstmals sind alle Texte und Diskussionen vom ORF ins Englische, Französische, Spanische, Italienische, Tschechische und Slowenische übersetzt worden und gleichzeitig mit der Fernsehübertragung im Internet mitzulesen gewesen. Ziel des Projektes ist es, deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern eine große europäische Plattform zur Veröffentlichung zu bieten. Die schleichende Wandlung von einem wunderbarerweise live vom Fernsehen übertragenen Literaturwettbewerb zu einem Fernsehwettbewerb mit Studiopublikum ist bedauerlich und sollte nicht fortschreiten – sonst kommt keiner mehr aus Zürich, Hamburg oder Wien, nur um die applaudierende Kulisse im ORF-Theater darzustellen.

In diesem Jahr hat Tilman Rammstedt mit seinem sehr komischen, auf elegische Weise auch durchaus ernsthaften Text »Der Kaiser von China« in Klagenfurt auf den vom Publikum per Internet zu wählenden Publikumspreis gezielt und den mit 25 000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis der Jury gewonnen. Die Regeln erlauben das, und zuletzt war ein solcher Doppelerfolg vor zwei Jahren Kathrin Passig aus Deggendorf gelungen, früher schon einmal Inka Parei. Rammstedt ist 1975 in Bielefeld geboren und dort bis zu seinem Abitur geblieben – sein Vater ist dort Soziologieprofessor. Der »Kaiser von China« ist die Totenklage über einen störrischer Großvater. Er bekommt von seinen Enkeln einen Gutschein für eine Reise geschenkt, »wohin Du schon immer fahren wolltest«. Er, der Deutschland nie verlassen hatte, wählt China, und das Los fällt auf den entsetzten Enkel, der uns die Geschichte vom Sterben seines Großvaters und von seiner Weigerung erzählt, mit ihm nach China zu fahren: »China kommt nicht in Frage, und ich habe die Arme verschränkt, und mein Großvater auch, obwohl er nur noch einen Arm hatte, den rechten, doch den konnte er so geschickt um seinen linken Hemdsärmel wickeln, dass es aussah, als handelte es sich um zwei intakt verschränkte Arme.« Das Ganze ist ein brillantes Feuerwerk von pfiffigem Humor und zugleich existenzieller Ernsthaftigkeit. Der von der Berliner Literaturkritikerin Ursula März eingeladene Tilman Rammstedt schrieb in seinem Text die meisten Worte, er hatte die höchste Pointendichte, Lesegeschwindigkeit, die meisten Lacher in der Jury und im Publikum. Aber es brauchte vier Wahlgänge, ehe sich die sieben Juroren mit absoluter Mehrheit auf ihn geeinigt hatten. In Berlin ist Rammstedt Musiker in der Gruppe Fön und Mitbegründer der Lesbühne Visch & Fers.

Der mit 10 000 Euro dotierte Telekom Austria Preis ging an Markus Orths aus Karlsruhe. Er trug souverän »Das Zimmermädchen« vor und verwirklichte die hohe Kunst, »das Absurde als das Normale erscheinen zu lassen« (Ursula März): Eine Frau putzt im Hotel und legt sich jeden Dienstag unter das Bett in einem »Bleibezimmer«, um etwas zu tun, was vielleicht jeder gern einmal täte – zu schnüffeln. Der 1969 geborene Orths hat seit vielen Jahren erfolgreiche Romane bei Schöffling veröffentlicht – einem kleinen Verlag, der seit Inka Parei immer wieder in Klagenfurt Erfolge erzielte. Er hat eine »einschlägige« Karriere hinter sich: Er war Stipendiat des Klagenfurter Literaturkurses 2000, Preisträger beim open mike des selben Jahres und erhielt inzwischen zahlreiche Auszeichnungen.

Patrick Findeis aus Heidenheim erhielt den 3sat-Preis in Höhe von 7500 Euro für seinen im Bauernmilieu spielenden Romanauszug »Kein schöner Land«. Der Juryvorsitzende Burkhard Spinnen hatte ihn vorgeschlagen und besonders das Versmaß dieses Prosatextes gerühmt. Findeis ist Absolvent des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig und lebt heute in Berlin. Im Mittelpunkt seines sehr musikalischen Textes steht eine tragische Figur bäuerlicher Endzeit, ein Landwirt, der keinen Nachfolger für seine Scholle findet, eine Elegie um den eigenen Boden, eine Gratwanderung, die aller verdächtigen Ideologie aus dem Wege geht.

Schließlich gewann mit Clemens J. Setz aus Graz einer der beiden österreichischen Teilnehmer den Ernst-Willner-Preis (7000 Euro) für »Die Waage«. Der von der Wiener Literaturkritikerin Daniela Strigl vorgeschlagene Autor bewies wieder einmal, dass das gute Vorlesen eines Textes viel zu seiner Akzeptanz beitragen kann: Der Text handelt von »Verrückten« in einem Mietshaus, die sich eine Waage auf den Hof stellen und nach exzessivem Fleischkonsum die Welt der Gegenstände nach der Hausgemeinschaft greifen lassen. Der Jury war dieser Text Anlass einer Reflexion darüber, ob und wie weit Texte »aufgehen« müssten, oder – anders ausgedrückt – »wie viel bringt der Körper auf die Waage«.

Diese Preisvergabe ist vertretbar, lässt aber ein paar gute Texte unberücksichtigt, wie den mit den schönsten Satzperioden von Heike Geißler aus Riesa, die zauberhafte Liebesgeschichte um einem Feuerwehrmann von der heute in Stuttgart lebenden Iranerin Sudabeh Mohafez oder »Muttervaterkind« von Annette Selg aus Tuttlingen. Sie hatte vor einigen Jahren »Die Welt der Encyclopédie« in der Anderen Bibliothek mit herausgegeben und dabei eine Leidenschaft entwickelt, die ihr auch bei dem ruhigsten Text des Wettbewerbs nicht abhanden gekommen ist. Über ihrer verhaltenen, dafür beinahe doppelten Liebesgeschichte auf einer griechischen Insel könnte der Schlüsselsatz stehen: »Vielleicht ist gerade die Einsamkeit der einzig mögliche Ort.« Mit ihrem sehr schönen Text wurde sie von der Jury ziemlich allein gelassen – die debattierte über alles Mögliche, nur nicht über »Muttervaterkind«. Manche Texte waren einfach besser als die Jury!

Nur etwa die Hälfte der gelesenen Texte hatte »Bachmann-Preis-Niveau«. Bei keinem spürte man die notwendige letzte Leidenschaft, und die Jury war in diesem Jahr zu oft in ihre eigenen Formulierungen verliebt oder redete an den Texten vorbei. Ausnahmen waren die beiden Damen Ursula März und Daniela Strigl. Die in diesem Jahr vorgenommenen Änderungen an der Studiobühne und in der dramaturgischen Struktur mit einem ungeklärten Verhältnis zwischen dem mitspielenden Moderator Dieter Moor und dem am Ischias genervten Juryvorsitzenden Burkhard Spinnen haben sich nicht wirklich bewährt. Da muss noch viel nachgedacht werden.

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