Stiefkinder der Medizin

Förderprogramme sollen Erforschung seltener Krankheiten verbessern

  • Beate Wagner
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Lea auf die Welt kommt, trinkt sie mit kräftigem Zug, hält bald selbst ihren Kopf und lächelt, wenn sich jemand über sie beugt. Doch mit einem halben Jahr wird sie zum Sorgenkind: Lea ist schreckhaft, schreit viel, kann nicht mehr greifen, krampft und verschluckt sich. Der Grund trifft die Eltern wie ein Schock: Ihre Tochter leidet an einer unheilbaren Erbkrankheit namens Leukodystrophie. Mit eineinhalb Jahren stirbt das Kind.

Ein Schicksal wie dieses widerfährt nur wenigen Familien. Denn die Leukodystrophie, bei der die weiße Gehirnsubstanz zerstört wird, zählt zu den seltenen Krankheiten. Nach EU-Definition gilt eine Erkrankung dann als selten, wenn weniger als 5 von 10 000 Menschen betroffen sind. Das trifft auf 5000 bis 8000 Krankheiten zu, in Deutschland gibt es schätzungsweise vier Millionen Patienten. Versorgt werden sie völlig unzureichend.

Morbus Marfan, Leberzellkrebs, Lungenhochdruck oder angeborener Kleinwuchs: Die Liste der medizinischen Raritäten ist lang. »Bei vielen weiß man noch nicht, wie sie entstehen, noch gibt es systematische Diagnostik und Therapien«, sagt Alfred Hildebrandt, ehemals Leiter des Bundesinstituts für Arzneimittel und heute Berater der Allianz Chronisch Seltener Erkrankungen. Das liegt zum einen an der Forschung: An kleinen Patientengruppen lassen sich kaum aussagekräftige Studien durchführen; bei Krankheiten, an denen Kinder leiden, erschweren ethische Bedenken Forschungsprojekte. Zum anderen fehlt es an Geld. Für die Industrie ist es wenig lukrativ, in ein Arzneimittel zu investieren, das kaum jemand braucht.

Um die Forschung voranzutreiben, will das Bundesforschungsministerium in den nächsten zwölf Jahren rund 80 Millionen Euro bereitstellen. Seit diesem Jahr fördert zudem die EU 13 Projekte mit 10 Millionen Euro, sechs davon koordinieren deutsche Wissenschaftler, an zehn sind deutsche Partner beteiligt. Bei der Forschung müsse der Patient im Mittelpunkt stehen, forderte Hildebrandt letzte Woche auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin: »Denn was nützt ihm die akribische Suche nach einer Diagnose, wenn es dann keine Therapie gibt?« Ekkehard Grünig, Leiter des Zentrums für Lungenhochdruck der Thoraxklinik Heidelberg, hält die enge Vernetzung von Ärzten und Betroffenen für wichtig. »Je seltener eine Erkrankung, desto wichtiger, dass sich Patienten in Selbsthilfeorganisationen austauschen, Aufklärung einfordern und die Wissenschaft zur Entwicklung neuer Medikamente bewegen.« Nur wenn alle Beteiligten zusammenarbeiten, würden seltene Krankheiten schneller erkannt. Beispiel Lungenhochdruck: Bei dieser Krankheit ist der Druck im Lungenkreislauf erhöht, das Blut staut sich in den Körperkreislauf zurück. 80 Prozent der Patienten erhalten erst dann die richtige Diagnose, wenn das Herz bereits geschädigt ist.

Das vorhandene Wissen ist schlecht aufbereitet und schwer zugänglich. Ohnehin sind die Leiden oft komplex, betreffen mehrere Organe und äußern sich unspezifisch. Bei der Krankheit Morbus Fabry – von der in der EU nur 1200 Menschen betroffen sind – sammelt sich zum Beispiel durch einen Enzymmangel Fett in den Wänden der Blutgefäße sowie in Herz, Niere oder Auge. Das Beschwerdebild ist wenig konkret: verminderte Schweißproduktion, Schmerzen in den Extremitäten, Nierenversagen, Herzprobleme, Schlaganfälle. Zehn Jahre dauert es im Schnitt, bis Morbus Fabry erkannt wird.

Wie effektiv der Austausch zwischen Forschung und Klinik sein kann, zeigt das Projekt Sifap (Stroke In Young Fabry Patients). Die weltweit größte Schlaganfall-Studie soll Erkenntnisse darüber liefern, wie oft Morbus Fabry mitverantwortlich ist, wenn junge Menschen einen Schlaganfall erleiden. In einem Zeitraum von 18 Monaten sollen in den beteiligten Krankenhäusern Blutproben von 5000 Patienten gesammelt und an der Universität Rostock analysiert werde. Dafür steht dort ein europaweit einmaliges Genanalyse-System zu Verfügung. Erhärtet sich der Verdacht auf den seltenen Gendefekt, könnte der krankhafte Prozess durch eine Enzymtherapie gestoppt werden.

Bei vielen anderen Leiden gibt es indes noch keine Therapie. Seit 2000 bietet die EU darum Pharmaunternehmen finanzielle Anreize und beschleunigte Zulassungsverfahren. Seitdem wurden 44 Medikamente für vernachlässigte Krankheiten zugelassen, im Branchenjargon »Orphan Drugs« (Waisen-Medikamente). 40 weitere sollen bis 2011 folgen. »Zudem laufen 476 Projekte für Arzneimittel, die noch nicht zugelassen sind, aber den Orphan-Drug-Status schon erhalten haben«, sagt Siegfried Throm vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller. Das sei kein Tropfen auf den heißen Stein: »Viele dieser Orphan Drugs wirken bei mehreren Krankheiten.« Der Wirkstoff Sorafenib etwa wurde 2006 für die Behandlung von Nierenzellkrebs zugelassen, im Oktober 2007 auch für Leberzellkrebs.

Nicht selten setzen Ärzte und Patienten in ihrer Not Medikamente aber auch gegen Krankheiten ein, für die sie nicht zugelassen sind. Dieser »Off-Label-Use« ist riskant: Der Hersteller haftet nur, wenn die Arznei bestimmungsgemäß eingenommen wurde. Sicherer wären »Compassionate use«-Programme. Dabei dürften Patienten Arzneimittel nehmen, die noch nicht zugelassen sind, für die es aber schon Wirksamkeits- oder Verträglichkeitsstudien gibt. Wann diese Idee umgesetzt wird, bleibt abzuwarten.

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