Werbung

Mit dem Logbuch durchs Schülerleben

Statt auf Noten müssen die Gemeinschaftsschulen auf andere Bewertungsverfahren setzen

  • Lena Tietgen
  • Lesedauer: 5 Min.
Im September dieses Jahres startet in Berlin das »Pilotprojekt Gemeinschaftsschule«. Verbunden ist damit die Hoffnung auf eine Schule, die mehr Bildungsgerechtigkeit herstellt, Lehrern wie Kindern wieder Spaß macht und zu besseren Leistungen führt. Doch die Gemeinschaftsschule ist mehr als nur das längere gemeinsame Lernen in einer Schulform; sie braucht auch eine andere Pädagogik. In der Debatte wird dabei häufig mit Begriffen argumentiert, die, in der Regel von Experten kreiert, Experten vorbehalten bleiben. So erscheint selbst manch Interessantes diffus und rückt in unvorstellbar weite Ferne. »Neues Deutschland« erläutert in einer Serie die wichtigsten Begriffe und Ziele. Die fünfte Folge beschäftigt sich mit dem Logbuch als Alternative zur herkömmlichen Beurteilung druch Ziffernnoten.

In jedem Jahr, wenn zum Ende des Schuljahres die Versetzungszeugnisse ausgeteilt werden, geht ein Grummeln durch die Republik. Einige machen Freudensprünge, manche lässt dies gleichgültig, anderen kommen Tränen und nicht wenige resignieren. Hinter den Schülern und mit ihnen den Eltern liegt eine Zeit der Anspannung und Angst vor einem Urteil, das sie auf die eine oder andere Weise festschreibt. Die Ferien beginnen und im Gepäck befindet sich der Vorsatz, dass das nächste Schuljahr besser wird. Diese Zeugnisse geben keine Ruhe, denn sie sind ein abstraktes Kalkül zum Ansporn von Leistung, aber keine sättigende Bestätigung des Werts eines Menschen. Der beste Schüler wird angespornt, noch besser zu werden, der schlechteste gerät unter Druck. Aber für alle gilt: Mit Eintritt in die Schule beginnt eine Endlosschleife der Bewertung nach reinen kognitiven Parametern anhand von Noten. Die Begründung für diese Praxis ist immer die gleiche: Kinder möchten wissen was sie können und sich mit anderen vergleichen.

Diskriminierung durch Ziffernnoten

Es scheint, als gebe es keine andere Möglichkeiten als Zensuren oder schriftliche Rapports seitens der Pädagogen, Maßstäbe zu setzen und Schüler zu beurteilen. Das Dilemma ist ersichtlich: Auf der einen Seite stehen die Kinder, die auf Rückmeldungen durch die Erwachsenen angewiesen sind, auf der anderen Seite stehen die Erwachsenen, die nicht nur die Maßstäbe bestimmen, sondern auch über die Verfahrensweisen entscheiden, diese Maßstäbe durchzusetzen. In der Gemeinschaftsschule soll dieses Dilemma dadurch gelöst werden, dass der Fokus auf die Evaluation individuell entwickelter und jederzeit veränderbarer Lernziele gelegt wird, die in Form von sogenannten Logbüchern von Schülern, Lehrern und Eltern gemeinsam festgehalten werden.

Das in einer Bewertung zum Ausdruck kommende Urteil ist zunächst eine Rückmeldung an den jeweils Anderen. In dieser Bewertung teilen wir ihm mit, in welcher Art und in welchem Umfang er in unser Weltbild passt, wie er auf uns wirkt. Gleichzeitig geben wir damit auch Aufschluss über uns selbst. Diese gegenseitige Spiegelung ist für uns als Menschen notwendig, damit wir uns selbst hinreichend wahrnehmen können, denn ein Mangel an Selbstwahrnehmung erzeugt in gewisser Weise eine Immunität gegenüber Anderen, die in der Regel zu sozialen Störungen führt. In jedem Fall führt ein Mangel aber zur Vereinsamung und Desorientierung.

Zum anderen liegt einer Bewertung ein Werturteil zu Grunde. Mit dieser positiven wie negativen Diskriminierung unterbreiten wir uns gegenseitig Angebote alternativer Verhaltensweisen. Die Bewertung anderer Menschen ist allerdings niemals eine Einbahnstraße. Auch schon vor der Existenz von Internetseiten wie spickmich.de, auf der Schüler Lehrern Noten in verschiedenen Kategorien geben können, bewertete jede Schülergeneration, mal mehr mal weniger geheim, ihre Lehrer und Eltern. Zu allen Zeiten gab es also Werturteile von Erwachsenen über Kinder und umgekehrt. Bewertung an sich kann also nicht das Problem sein, das bei Kindern schlaflose Nächte erzeugt. Wenn also Bewertung zum menschlichen Leben dazugehört, fordert sie eine Analyse über mögliche Verletzung oder gar Vernichtung heraus – vorausgesetzt, man teilt die Meinung, dass jedes Handeln den Anderen auch schädigen kann. Hier setzt das Problem des »Einbahnstraßendenkens« und der »Machtignoranz« ein, wie es sich in dem Charakter der Versetzungszeugnisse darstellt. Die Selektion, die dem zugrunde liegt, ist mehr als nur eine bloße Spiegelung der Fähigkeiten eines Kindes durch die Lehrer. Sie diskriminiert im negativen Sinne, weil dadurch bereits in jungen Jahren über Lebenswege entschieden wird.

Kontaminierung der Pädagogik

Das dreigliedrige Schulsystem kann nur durch das Austeilen von Zensuren einschließlich einer Möglichkeit der »Abschulung«, also des Abschiebens eines Schülers auf eine untere Schulform, funktionieren. Darüber hinaus werden Lehrer zu »Göttern«, denn sie können von ihren Schülern nicht zur Disposition gestellt werden. Gleichwohl müssen sie sich gegenüber ihrem Dienstherrn rechtfertigen. Ihm gegenüber sind sie einem ähnlichen Bewertungsdruck ausgesetzt, der zu einem für sie nachteiligen Urteil führen kann. Aufgrund dieser Hierarchie gibt es in der Schule keine Möglichkeit, dass die Beteiligten – Schüler und Eltern wie auch die Lehrer – ihr Verhalten reflektieren und nachhaltig ändern. Und so führt die unreflektierte Macht zu einer regelrechten Kontaminierung jeglicher Pädagogik, jeglichen Lernens und jeglicher Persönlichkeitsentwicklung.

Ein Ausweg ist das Logbuch, das als Lotse durch den zu lernenden Stoff, des zu erwerbenden Sozialverhaltens, der körperlichen Entwicklung und des Erwerbs von Methoden des Lernens dient. In ihm werden die individuell angepassten Lernziele festgehalten und bilanziert. Die Ausgestaltung verläuft von Schule zu Schule unterschiedlich. In der Regel werden wöchentliche Lernpläne in gemeinsamer Absprache zwischen dem Schüler und dem Stammgruppen- oder Klassenlehrer erstellt. In größeren Abständen kommt es zu Bilanzierungen, zu denen die Eltern mit hinzugezogen werden. Generell werden prozessual Lernziele, -schritte und -methoden von Schülern, Lehrern und Eltern gegengezeichnet. So lernen die Schüler über die Selbstreflexion sich selbst zu steuern, sich realistische Ziele zu setzen und diese auch konsequent zu verfolgen.

Neben dem Logbuch fließen überdies noch andere Zertifikationen, zum Beispiel Einschätzungen aus der Projektarbeit, mit in das Zeugnis ein. Bis Klasse acht oder neun werden in der Regel alle Bewertungen als Bericht verfasst. Erst danach erfolgen sie in Form von Zensuren, weil dann die Schüler eine Reife erreicht haben, in Ziffernnoten ihre eigenen Leistungen gespiegelt zu sehen. Dieser Ansatz hat den Charme, einmal gesteckte Ziele unterwegs anpassen zu können, da es Entwicklungsschwankungen berücksichtigt. Zudem wird durch dieses Bewertungsverfahren auch der Lehrer zur permanenten Selbsteinschätzung sowie zur Schärfung seiner pädagogischen Wahrnehmung gezwungen.

Die erwähnte Kontamination der Pädagogik wird durch dieses Verfahren nicht gänzlich verschwinden; da Konflikte aber produktiv ausgetragen und somit minimiert werden, wird diese Kontamination aber zumindest minimiert.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal