Consciencia bedeutet Gewissen

Ein Frühling in Santiago – Putsch und Widerstand

  • Peter Overbeck
  • Lesedauer: 5 Min.
Der gebürtige Mannheimer Peter Overbeck (Jg. 1927), Dokumentar- und Spielfilm-Regisseur, war damals in Chile Mitglied der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR). Nach dem Putsch lebte er im Untergrund, musste dann jedoch das Land verlassen. Er lebt heute mit seiner Frau Ruth (s. Foto) in einem Kibbuz in Israel und engagiert sich in der Friedensbewegung. Seine vom Nautilus Verlag edierten Erinnerungen »Santiago, 11. September« (256 S., br., 19,90 EUR) kommen jetzt in die Buchhandlungen.

Im September beginnt der Frühling in Chile. Überall schießen die Blumen aus der Erde, entfalten ihre kräftigen Blätter und Blüten und schmücken das Land mit leuchtenden Farben. Die von Bienen umschwärmten Blütenkelche öffnen sich weit, um die Sonne zu genießen, um befruchtet zu werden. Es bleibt ihnen nur kurze Zeit bis zum Beginn des Sommers mit seiner monatelang sengenden Sonne und Trockenheit, die alle Pflanzen verdorren lässt und zu einem langen Sommerschlaf zwingt ...

Drei Wochen lang hörten wir jede Nacht das Rattern von Maschinengewehren in den poblaciones (Armenvierteln), das Pfeifen und Knallen vereinzelter Schüsse, das dumpfe Krachen einschlagender Panzergranaten, den Lärm der Hubschrauber über den Dächern der Arbeiterviertel. Einmal wurden wir vom tosenden Lärm eines ganz niedrig über unser Haus hinwegknatternden Hubschraubers aus dem Schlaf aufgeschreckt. Vorsichtig spähte ich durch die Gardinen und sah das die leere Straße entlanggeisternde Licht seiner Scheinwerfer. Sie suchten nach Leuten, die die Sperrstunde nicht eingehalten hatten. Wenn sie jemand fanden, wurde geschossen.

Am Morgen beim Brötchenkaufen sah ich gegenüber der Bäckerei einen toten Mann im Rinnstein liegen. In der Morgendämmerung trieben in den Wassern des Mapocho die Leichen derjenigen, die während der Nacht erschossen worden waren. Die Leute schienen sich daran zu gewöhnen. Es war still geworden in Chile. Fast alle, die als Einzelgänger oder in spontan entstandenen Gruppe versucht hatten, mit der Waffe in der Hand der kompakten militärischen Macht der Diktatur entgegenzutreten, waren tot. Es herrschte Ruhe im Land. Die Schreie der Gefolterten in der Villa Grimaldi, in Tejas Verdes, in den Konzentrationslagern von Ires Alamos und Chacabuco und in den Kellern der mit politischen Gefangenen überfüllten Stadien waren draußen nicht zu hören.

Wir erfuhren von der Verhaftung und vom Tod vieler compañeros. Ruth wurde heimlich von einem Augenzeugen, der entkommen war, mitgeteilt, dass ihr erster Mann Ernesto nach der Folter erschossen worden war. Auch Victor Jara wurde in jenen Tagen ermordet. Damit er nie wieder Gitarre spielen könne, hatte man ihm vorher beide Hände gebrochen ...

Wäre das nicht der Moment gewesen, die deutsche Botschaft aufzusuchen und um Repatriierung zu bitten? Ruth hätte sofort nach Israel gehen können, wo sie ihr Sohn, in großer Sorge um sie, erwartete. Aber wir dachten nicht daran wegzulaufen. Jetzt Chile zu verlassen, wäre uns wie Fahnenflucht vorgekommen. So blieben wir eben, wie die meisten ...

Am 18. September ist chilenischer Nationalfeiertag. Die Junta hatte angeordnet, dass jeder Chilene, der ein wahrer Patriot sei, das durch das Heraushängen der Nationalfahne bezeugen müsse. Es gab sehr viele Chilenen, die diesem Befehl nicht nachkamen, weil sie keinen Sinn darin sahen, am Festtag der Sieger ihre Niederlage zu feiern. Das war zumindest Ungehorsam, wenn nicht schon Aufsässigkeit der Regierung gegenüber und auch nicht ganz ungefährlich.

Auch die Suche nach den Verschwundenen wurde zu einem Akt des Widerstands. Angehörige verschiedener Familien trafen sich, um darüber zu beraten, wie sie etwas über das Schicksal ihrer verschwundenen Töchter, Söhne, Schwestern, Brüder, Väter und Mütter erfahren könnten. Sie fingen damit an, Zeugen der Verhaftung ihrer Angehörigen, die diese in den Konzentrationslagern gesehen oder die ihnen in den Folterkammern begegnet waren, zu befragen ... Frauen ketteten sich mit den Fotografien der Verschwundenen auf der Brust an das Gitter des Kongressgebäudes und warfen die Schlüssel weg ... Die Menschen auf der Straße blieben stehen, um diesem Schauspiel zuzuschauen. Zuerst schweigend. Dann wurden in der Menge die ersten Schmährufe gegen die Diktatur laut: »Abajo la dictadura!«

Unter den Studenten breitete sich ziemlich bald eine zusehends subversive Unruhe aus. Der Protest gegen die militärische Bevormundung durch Rektoren in Uniform, die kontrollierten, was gelehrt und in den Korridoren geredet wurde, äußerte sich immer häufiger in Form verbotener Demonstrationen, zuerst innerhalb der Universität, dann öffentlich auf der Straße, bei denen trotz heftiger Repression das Ende der Diktatur gefordert wurde.

An einem Sonntagnachmittag Ende Oktober hatte uns einer der ehemaligen compañeros besucht. Er war gekommen, um uns zu fragen, ob wir nicht mitmachen wollen. Irgend etwas müsste gegen die Diktatur unternommen werden. Es seien alles compañeros von vorher. Wenn ja, sollten wir uns am kommenden Dienstag um soundso viel Uhr an einer bestimmten Ecke der Alameda mit ihm treffen. Wir sagten zu, und von diesem Moment an schien es uns, dass unser Leben wieder einen Sinn bekommen hatte. Wir waren bewegt, als wir die compañeros wiedersahen: Carmen, Angelica, Eduardo, Carlos und Horacio waren gekommen. Mehr nicht, denn das hätte Verdacht erregen können und wäre außerdem aus Sicherheitsgründen von der Bewegung streng verboten, sagte Carlos, der neue Leiter unserer Gruppe. Er fügte hinzu, dass eine ganze Reihe solcher Zellen neu entstanden seien ...

Natürlich bekam jeder von uns einen falschen Namen. Alle Hinweise auf irgendeine politische Beteiligung oder auch nur Interesse an Politik, zum Beispiel diesbezügliche Bücher und Schriften, mussten verschwinden. Das Haus musste »sauber« sein. Schweren Herzens entschlossen wir uns, die bei uns im Garten noch versteckten Filmrollen auszugraben und weit weg in einen Kanal zu werfen. Wir selbst waren davon überzeugt, dass Widerstand zu leisten wichtiger war als Film. Dann wurden uns Rollen mit Aufklebern in Briefmarkengröße übergeben, auf denen stand: »Pan, trabajo y libertad« oder »Abajo la dicta dura!« (Brot, Arbeit und Freiheit, Nieder mit der Diktatur!) Wir klebten sie an Haus-türen, Gartentore, parkende Autos, an die Wände von Hauseingängen und an Laternenpfähle. Später waren es dann von der Bewegung herausgegebene Pamphlete, Aufrufe und Informationen, die so klein gedruckt waren, dass man sie nur mit der Lupe lesen konnte. Wir schoben sie mit dem Fuß unter Haus- und Gartentore oder ließen sie an Arbeitsstätten, im Kino oder im Autobus liegen. Ich fotografierte compañeros für gefälschte Kennkarten und Pässe. Es kam auch vor, dass wir zeitweilig von der Polizei gesuchte compañeras oder compañeros bei uns zu Hause versteckten ...

Widerstand zu leisten ist auch eine Frage der Consciencia. Consciencia bedeutet das Bewusstwerden der Situation, in der man sich befindet, heißt aber auch Gewissen. Es ist eine Frage des Bewusstseins und Gewissens, sich abzufinden oder nicht, mit dem, was auf der Welt geschieht. Widerstand ist ein Ausdruck von Freiheit.

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