Notwendige Reformen scheiterten

  • Michael Zeuske
  • Lesedauer: 5 Min.

Das heutige Kuba ist das Ergebnis der Geschichte, nicht etwa das Ergebnis der Herrschaft einer Diktatur oder zweier Brüder. Allerdings spielen Herrschafts- und Gesellschaftstypen in der Geschichte durchaus eine Rolle. Aus dem Blick spätkapitalistischer Gesellschaften stellt die kubanische Gesellschaft seit spätestens 1962 eine Anomalität dar; aus Sicht der Masse der Kubaner und vieler Menschen der damaligen »Dritten Welt« war es das Modell einer gerechten und egalitären Gesellschaft, die allen Menschen Kubas gleiche Rechte und Chancen bot sowie der »Dritten Welt« die Solidarität Kubas. Etwa 80 Prozent aller Kubanerinnen und Kubaner, die nicht zur Oberschicht oder zu oberen Mittelklassen gehörten, haben die Chancen dieser neuen Gesellschaft genutzt. Die kubanische Revolution war eine Umgestaltung, die sich auf Klassen stützte – auf Bauern und die »Unter«-Klassen.

Egalitäre Gesellschaften haben zwei Grundprobleme: Sie müssen sich nach außen in einer Welt mächtiger, nichtegalitärer, hierarchischer Staaten und Gesellschaften verteidigen, und die fehlende interne Hierarchisierung beraubt die Wirtschaft ihrer wichtigsten Antriebe – der Konkurrenz und der Angst. Das fördert monolithische, auf charismatische Anführer zugeschnittene Herrschaftssysteme, die für längere Zeit auf hohe Zustimmungen setzen können. Das ist das »Geheimnis« der langen Herrschaft der Castro-Brüder. Dazu kommt natürlich noch die fast ideale Ergänzung der beiden schon lange vor dem offiziellen »Machtwechsel« 2008. Zusammen mit sozialen Errungenschaften, von denen noch heute, da sie schon ziemlich ramponiert sind (Schulwesen, Gesundheitssystem, Sicherheit), in den meisten Ländern Lateinamerikas die jeweiligen 80-Prozent-Mehrheiten nur träumen können. Das gab Kuba seine Strahlkraft bis 1990.

Mit der Krise 1990 traten drei miteinander verwobene historische Elemente in der Vordergrund. Erstens die »revolutionäre Außen-, Symbol- und Modellpolitik«, die die kubanischen kommunistischen Eliten mit einiger Berechtigung und in der Annahme betrieben, Havanna sei immer noch Schnittpunkt der atlantischen Welt, wurde zu teuer. Zweitens brach der »Realsozialismus« zusammen und entzog Kuba das Imperium, auf das sich alle Eliten der Insel bis dahin bezogen hatten. Drittens: Die egalitäre Gesellschaft hatte angesichts einer ganzen Generation im sozialistischen Kuba geborener »neuer Menschen« schon in den achtziger Jahren ihre Grenzen erreicht.

Eigentlich wären Leistung und Aufstieg auf neuer, sozialistischer Grundlage das Gebot der Stunde gewesen. Jetzt wurde das Herrschaftssystem der Castros wichtig – in erster Linie verhinderte es den Zusammenbruch. Auch traten repressive Seiten stärker hervor. Zugleich scheiterte es bei der sozialen Verankerung der notwendigen Reformen, die zwischen 1990 und 1997 als erste Phase der Spezialperiode einfach zugelassen werden mussten (internationaler Tourismus, Bauernmärkte, »Arbeit auf eigene Rechnung«, private Restaurants, etc.). Die realen Änderungen führten aber nicht dazu, dass Kuba als einzige westliche Gesellschaft bewies, dass »Reformen im Sozialismus« erfolgreich sein können. Parallele Betonierung von Außensektor und »normaler« Gesellschaft, Schwarzmarktboom und lokale Klientelschaften sowie partikulare Privilegien für Armee, Ärzte und Künstler waren die Folge. Die Errungenschaften der Revolution (Gesundheit, Bildung, Sicherheit, kein Hunger) verfielen. Kubaner mussten sich im Alltag an die Verhältnisse einer Krise und in der Krise an eine informelle hierarchisierte Gesellschaft mit Schwarzmärkten gewöhnen, bei Beibehaltung des egalitären Diskurses. Die Castros getrauten sich aber nicht, die wirklich großen internen Probleme anzugehen – konsequente Verjüngung der Politik, mehr Markt, konsequentes Steuersystem, Verrechtlichung, Umweltpolitik und vor allem: Agrarreformen und urbane Reformen, die wirklich sozialen Wohnungsbau, Nahrungsmittelsicherheit und gerechte Verteilung des Wohnraums ermöglichen würden.

Seit 1997 wurde aus Angst vor zunehmender Differenzierung begonnen, selbst bescheidene Anfänge von Reformen abzuwürgen und überzugehen zur letzten Phase der direkt von Fidel Castro verantworteten Wirtschaftspolitik. Das war relativ leicht. Einerseits gab es Bush-Amerika, andererseits den Linksruck in Lateinamerika (vor allem Venezuela). Auf Kuba selbst gab es massive Kritik an den Verletzungen der »Gleichheit« während der Reformen mit ihren informellen Hierarchisierungen – Bauern und Handwerker, Kellner und Taxifahrer sowie Jineteros (Prostitution) standen schnell besser da als die Stützen des Castroismus. Eines wurde nicht gesagt – alle »neuen Reichen« bedienten sich des Schwarzmarktes, den die Regierung stillschweigend akzeptierte, um nicht das heiße Eisen »Reformen im Sozialismus« angehen zu müssen. Vor diesem Hintergrund ist es ganz klar, was der Februar 2008 bedeutet: Kontinuität des Castroismus »ohne Fidel«, aber mit Armeechef Raúl Castro und einem Kommentator Fidel. Die vorsichtigen Änderungen 2007 bis 2008 – die wichtigsten sind die über Landnutzung und differenzierten Lohn – schieben die notwenigen Reformen im Sozialismus nur hinaus. Raúl Castro ist ein Übergangskandidat.

Auch wenn es stiller um Kuba geworden ist – das Land bedarf weiterhin der kritischen Solidarität. Mit dem weltweiten Ansteigen der Nahrungsmittelpreise gerät die an sich schon prekäre Versorgung in immer tiefere Krisen. Von Arbeits-»Produktivität« ist nicht zu sprechen. Die gemäßigte Reform-euphorie der Jahre 1993-1995 ist dahin. Und das auf einer Insel, deren diskursiver Mythos darin besteht, die Revolution »für die Bauern« gemacht zu haben! Rund die Hälfte des Bodens auf Kuba ist ungenutzt.

Sicherlich wird man das nächste Jahr abwarten müssen, um zu sehen, was die von Raúl Castro dekretierten Veränderungen für konkrete Ergebnisse in Gestalt von Nahrungsmitteln bringen, die im Land erzeugt worden sind. Und sicher muss man beobachten, welcher Politiker welchen Einfluss erhält – aber Reformen oder »Umbruch« auf der Ebene von Regierung und Herrschaft sind das nicht. Die kubanische Gesellschaft ist schon viel weiter. Sie befindet sich wirklich seit 1990 in Wandel sowie Umbruch. Für sie existiert ein klarer Bruch zu den Zeiten vor 1990. Viele Kubanerinnen und Kubaner haben sich individuell oder familiär globalisiert. Das ist kubanische Tradition seit spätestens 1511.

Prof. Dr. Michael Zeuske, 1952 geboren, war von 1992 bis 1993 Professor für Allgemeine Geschichte, vergleichende sowie spanische und iberoamerikanische Geschichte an der Universität Leipzig. Seit 1993 arbeitet er als Professor für iberische und lateinamerikanische Geschichte an der Universität Köln. Zeuske hat mehrfach zu Kuba und Lateinamerika veröffentlicht. Gerade erschien von ihm »Von Bolivar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas« im Rotpunktverlag.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal