Als alles zerbrach

Leonid Dobycin wird wiederentdeckt

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Einer der vielen verkannten russischen Schriftsteller, der Gedemütigten, die es nicht zum »Zug der Zeit« geschafft hatten und dort auch nicht mitfahren wollten: Leonid Dobycin, 1894 im Baltikum als Sohn eines Arztes geboren, soll unter den Schriftstellern in Leningrad durch seine »Vornehmheit« ins Auge gefallen sein. Allein das schon wurde ihm übel genommen. Dass er Revolution und Bürgerkrieg als sinnloses Blutvergießen betrachtete, tat ein Übriges. Er unterließ, was von Schriftstellern ideologisch verlangt war und wurde mit seiner Prosa nicht verstanden. Oder nur allzu gut, aber dazu musste einer zwischen den Zeilen lesen können. Der Dichter Michail Kusmin, dem er 1924 vorliegende Erzählung mit der Bitte um Begutachtung schickte, antwortete ihm nicht. Das kann viele Gründe gehabt haben, aber wahrscheinlich wollte sich Kusmin nicht in die Nesseln setzen, wusste wohl, dass der Text nicht »zeitgemäß« war und hatte keine Lust, das zu begründen.

Ein Prosastück, das vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in ein baltisches Nest führt, wo alles – oberflächlich zumindest – wohlgeordnet scheint. Kein Massenelend, das eine revolutionäre Situation vermuten lässt. Anna Ivanovna sitzt mit ihrem Hündchen am Flüsschen, Anna Francevna kommt hinzu, es wird ein bisschen getratscht über die anderen Frauen. Derweil dachte Katerina Aleksandrovna an die »Dame«, mit der sie gern von Gleich zu Gleich verkehren würde. Um Aufmerksamkeit zu erregen, kommt ihr die Idee, das Flüsschen Eldyzka in »Fluß der heiligen Evdokija« umzubenennen. Aber ihre Bemühungen gehen ins Leere. Als Gräfin Anna ihr vor der katholischen Kirche entgegenkommt (die ist groß, die russisch-orthodoxe dagegen klein), sagt sie nur »Prosem geben Weg frei«. Und wir verstehen, die Gräfin ist eine Polin, die persönliche Beleidigung kann national und religiös ausgelegt werden, was dann auch geschieht.

Selbst heute ist es ungewohnt, wie lakonisch Dobycin schreibt. Er malt nichts aus, erklärt nichts, er verlangt vom Leser, dass dieser sich die Situation vorstellt und interpretiert. Es scheint, als habe er gegen die Ideologie das Faktische gesetzt. Er konnte wohl auch auf ein eingeweihtes Publikum vertrauen, wobei die Erinnerungen an die letzten Friedenstage unterschiedlich gewesen sein mochten. Dobycin interessiert, wie sich die Kriegsstimmung im Kleinen vorbereitete, und trauert darum, wie die heile Welt zerbrach. Er verherrliche das Kleinbürgertum, wurde ihm von der offiziellen Kritik vorgeworfen. Es heißt, dass Dobycin 1936 spurlos verschwand, nachdem ihm bei einer Versammlung des Leningrader Schriftstellerverbandes besonders hart zugesetzt worden war. – Vorliegender Text wurde 1988 erstveröffentlicht. Peter Urban, der von Dobycin bereits den Roman »Im Gouvernement S. Surkas Verwandtschaft« ins Deutsche brachte, hat auch dieses Werk entdeckt. Da er dabei strikt die wissenschaftliche Umschrift verwendet, aber diese Zeitung (wie andere auch) nicht über den slawischen Zeichensatz verfügt, bedarf es der Erklärung, dass von Leonid Dobytschin und der Erzählung »Jewdokija« die Rede ist.

L. Dobycin: Evdokija. Eine Erzählung. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse. 30 S., brosch., 9,50 EUR.

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