• Kultur
  • Literaturbeilage Leipziger Buchmesse

Den Mythos zerstören

ANMERKUNGEN ZU STALIN

  • Günter Rosenfeld
  • Lesedauer: 4 Min.

Ende vergangenen Jahres veranstaltete das russische Staatsfernsehen eine Umfrage. Ermittelt werden sollten die bedeutendsten Persönlichkeiten in der Geschichte Russlands. Mit einer halben Million Stimmen gelangte Stalin auf den dritten Platz nach dem Großfürsten Alexander Newski und dem Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin, der sich gleichermaßen als Reformer wie als Bekämpfer der Revolution erwies und 1911 einem Attentat zum Opfer fiel. Es sei dahingestellt, inwieweit diese Umfrage hinreichend repräsentativ ist. Es ist hier auch nicht der Ort, um zu erörtern, welche Defizite es in der Arbeit der russischen Historiker bei der Aufarbeitung der Stalin-Ära gibt. Offenbar werden heute im Bewusstsein eines Teils der Bevölkerung Russlands die Verbrechen Stalins zugunsten der Erinnerung an die Aufbauerfolge und den Sieg über die faschistischen Eroberer verdrängt.

Wolfgang Leonhard, der im April 88 wird, hat diese in den letzten Jahren in Russland zu beobachtende Stalin-Renaissance, »eine Ungeheuerlichkeit, die bisher noch viel zu wenig Beachtung fand«, zum Anlass genommen, um sich erneut dieser Thematik zuzuwenden. Es ist begreiflich, dass eine Aufwertung des »Generalissimus« ihn, der, wie er schreibt, »seine Jugend unter Stalin verbracht und sich zeitlebens mit den Verbrechen Stalins auseinandergesetzt hat« nicht gleichgültig lässt. Musste er doch im Alter von 15 Jahren erfahren, wie seine Mutter Susanne Leonhard, eine enge Freundin Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, 1936, nach wenigen Monaten gemeinsamen Exils in der UdSSR, zur Lagerhaft im Bezirk Workuta verurteilt wurde. Mieczyslaw Bronski, Mitkämpfer Lenins und sowjetischer Botschafter 1921 bis 1924 in Wien, dessen Identität als leiblicher Vater Wolfgang Leonhards nun, wie er mitteilt, als gesichert gelten kann (bis dahin galt der kommunistische Dramatiker Rudolf Leonhard, der nach seinem französischen Exil bis zu seinem Tod 1953 in der DDR lebte, als sein Vater) wurde auf Geheiß Stalins 1938 ermordet.

Es ist ein knapper Abriss, in dem Leonhard den Leser das Leben und Wirken Stalins von seinem Aufstieg bis zu seinem Tod Revue passieren lässt. Das Buch wendet sich weniger an den Fachmann und vermittelt daher kaum neue Details, wie auch das Literaturverzeichnis nur 14 Publikationen, alle deutschsprachig, aufweist. Es soll offenbar vor allem jene Leser ansprechen, die über Stalin erste Informationen suchen. Doch kann man das Buch auch als ein Fazit jahrzehntelanger Beschäftigung mit diesem Thema werten, und so beeindruckt es durch seine zusammenfassende Sicht auf den Diktator. Dabei geht es Leonhard bei Stalin darum, »das Wesen seiner Herrschaft, des Stalinismus, anschaulich zu machen und Stalin als historische Figur von jedem Mythos zu befreien.«

Leonhard schildert zunächst die Etappen des Aufstiegs Stalins bis zur Begründung seiner Alleinherrschaft 1929. Dabei arbeitet er dessen Skrupellosigkeit heraus, mit der er die Abkehr von den Grundsätzen Lenins und der marxistischen Theorie vollzog und sich seiner Gegner entledigte. Leonhard verweist auf die Befürchtungen, die Lenin nicht nur hinsichtlich der Person Stalins, sondern auch eines ausufernden Bürokratismus hegte. Die Widersprüchlichkeit des von Lenin geschaffenen neuen politischen Systems und dessen schon im Keim vorhandenen Schwächen, die Stalin dann bei der Errichtung seiner Herrschaft ausnutzte, hätten noch deutlicher herausgearbeitet werden können. Nach dem Urteil Leonhards dauerte der Prozess der Herausbildung einer von Stalin beherrschten bürokratischen Diktatur, deren Apparat etwa zwanzig Millionen Menschen angehörten, von Lenins Tod bis zum Ende der 30er Jahre.

Wie Leonhard darlegt, hatte das, was in der Stalin-Ära geschah, kaum noch etwas mit den ursprünglichen Ideen des Sozialismus gemein. Vier Vorgänge seien für die Abkehr Stalins von der Ideologie des Marxismus bedeutsam gewesen: die Doktrin vom »Sozialismus in einem Lande«, die Aufgabe des Marx'schen Gleichheitsideals, die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Doktrin des sich verschärfenden Klassenkampfes in der Periode des sozialistischen Aufbaus. Leonhard urteilt, dass Stalin im Unterschied zu Lenin, der die Oktoberrevolution keineswegs als unfehlbares Modell für andere Länder betrachtet habe, diese als »grundlegende Wende in der Weltgeschichte der Menschheit« bezeichnete. In diesem Zusammenhang habe Stalin die internationale Bedeutung und Rolle der Sowjetunion überhöht und die Herausbildung des großrussischen Nationalismus gefördert.

Ein eigenes Kapitel ist dem Terror der Jahre 1935 bis 1938 gewidmet. Leonhard nennt vier bis sieben Millionen Opfer. Als wesentliches Motiv des Terrors bezeichnet er Stalins Furcht vor dem Verlust der Macht. »Indem er die eigene Paranoia in ein universales Gefühl der Angst und Unsicherheit verwandelte, prägte er fortan die Stimmung in der Bevölkerung.«

Sehr knapp gehalten sind die Ausführungen über die Außenpolitik Stalins und seine Rolle während des Krieges. Abschließend greift Leonhard noch einmal sein bereits eingangs genanntes Anliegen auf: Heute Stalin als den großen Führer zu preisen, sei eine Verhöhnung der Millionen Opfer, die ihr Leben im Stalinismus verloren haben. Nur Anerkennung seiner Verbrechen öffne den Weg zu einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft in Russland.

Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin. Rowohlt Berlin. 191 S., geb., 16,90 EUR.

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