Fürchte dich nicht!

Deutsches Theater Berlin: Roland Schimmelpfennigs »Idomeneus«. Regie: Jürgen Gosch

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Wo die Toten von Gestern lagen, trauern Engel mit weißen zerbrochenen Flügeln.
GEORG TRAKL

Eine hohe weiße Wand drängt dicht heran an die Zuschauer. Vor der Wand sitzen sie zu zehnt auf einem schmalen Grat, den ganzen Abend lang. Jeder Einzelne wird in den kommenden achtzig Minuten voranstürzen in unerforschte Bereiche des Hier und Jetzt: Ewigkeit.

Man sitzt da oben immer über und doch schon kurz vorm Abgrund. Unten die Zuschauer allen Geschehens, sich unbeteiligt glaubend. Noch. Aber schnell schleicht sich Unbehagen heran. Hier gibt es keine Trennung von Schauspielern und Zuschauern; das, was gespielt wird, ist das Drama menschlicher Existenz. Alltag der Tragödie.

Die Geschichte von Idomeneus, die auch Mozart als Vorlage für eine Oper nahm: Ein König von Kreta und Held vor Troja. Ein Freier der Helena, der, um ihr im Krieg beizustehen, 80 Schiffe sandte. Der Triumph hat seinen Preis. Auf der Rückreise zerstören die Götter 79 der 80 Schiffe in einem Sturm. Sein Schiff bleibt als Zeuge der Vernichtung übrig. Idomeneus gelobt den Göttern, den ersten Menschen zu opfern, der ihm bei seiner Heimkehr begegnet. Es ist sein Sohn Idamantes. Die Opferbereitschaft versöhnt die Götter, aber Leukos, der in seiner Abwesenheit über Kreta herrschte, vertreibt ihn. Oder auch nicht. Der Mythos ist ein Durchspielen von menschlichen Elementarsituationen.

Wie Handeln immer schuldhaft bleibt, so kann das Aufhören von Handeln, reine Passivität, die Perspektive völlig verändern. Das Archaische: zugleich das Vielfältigste und das Einfachste. Die Geschichtserzählung ist niemals abgeschlossen. Sie birgt Varianten, die mit des Erzählers Entscheidungen zu tun haben. Darum immer wieder die Bruchstellen: »Halt, so ist es nicht gewesen!«

Und dann wendet sich die Geschichte, nimmt im weiteren Erzählfluss einen anderen Verlauf. Vielleicht also lebte Idomeneus, nach seiner Versöhnung mit den Göttern, bis zu seinem Tode friedlich als König von Kreta? Es ist noch nicht entschieden.

Wer ist Idomeneus bei Schimmelpfennig und Gosch? Ein Mythos. Ein nackter ausgelieferter Mensch. Ein Bild des Schreckens und der Hoffnung. Reise in den Schmerz. Geschichte eines Schiffbruchs. Protokoll des Ertrinkens: »Du musst Dich nicht fürchten, du musst nur niederfahren auf den Grund des Meeres.« Vision einer Rettung. Abfolge von Prüfungen. Beschwörungsversuch. Das Zugleich von Dynamik und Statik, von Zeit und Zeitlosigkeit. Zerreißprobe. Passionsweg. Experiment. Laokoon-Gruppe und Schauspieleransammlung. Groteske. Opfergabe. Ein Chor, der gegen das in ihm aufsteigende Chaos kämpft. Zeugnis der Angst. Poetik der Tränen und Revolte des Lachens. Glaubensgeschichte und wie Wellen dagegen anrollender Zweifel. Psalm. Kundgebung des Trotzes: »Das Schiff ist weg, ich lebe noch.« Floß der Medusa. Vanitas-Schauder im Ausmalen der Auflösung des Leibes. Schicksalsparabel. Bizarrer Totentanz. Zumutung. Ein Traum, wie man ihn träumt, wenn in den Lungen das Wasser steigt. Versöhnungsgewissheit voller Geburtswehen und Grenzüberschreitung. Eine einzige Liebeserklärung. Vision eines Gehenkten, der im Augenblick des Übertritts den Sarkasmus in sich selbst auslöscht ... Und ich denke an Franz Fühmanns letzten öffentlichen Auftritt im heißen Juni 1984, wenige Wochen vor seinem Tod. Er war wieder in der Charité gewesen und fuhr nun nach West-Berlin, um vor irgendwelchen nicht sehr zahlreich erschienenen Lehrerinnen aus seinen Todesvisionen zu lesen. Auf dem Videoband sieht man die abwehrenden Gesichter. »Ich muss ein Verhältnis finden zu diesem Dings, dem Tod«, sagte er und auch, dass er, als die Schmerzen am größten waren, nur noch im Totentanz-Zyklus des befreundeten HAP Grieshaber Halt und Trost fand.

Elf Schauspieler sprechen Schimmelpfennigs Erzählung; ein um seine Fassung ringender Chor. Wie ist der Schrecken des zu Sagenden zu bändigen? Allein durch das Sprechen selbst. Nur zehn der Schauspieler stehen dann tatsächlich auf der Bühne: Margit Bendokat, Meike Droste, Christian Grashof, Alexander Khuon, Peter Pagel, Katharina Schmalenberg, Barbara Schnitzler, Bernd Stempel, Valery Tscheplanowa, Kathrin Wehlisch. Der elfte, der junge Niklas Kohrt, fehlt, er kollabierte kurz vor der Premiere. Dies hier ist eben mehr als ein Theaterabend. Man fühlt sich selber wie nach dem Schiffbruch auf einem Floß, das auf offenem Meer treibt.

Hilft da nur noch das Beten? Keiner weiß es, aber es ist einer jener Situationen, wo man auch das versucht, wie man alles versucht, sich zu retten. Sogar der Sohn wird geopfert – auf schreckliche Weise. Und dann wird diese Ästhetik des Schreckens wieder aufgehoben und eine friedvolle Variante erzählt. Der Mythos trägt beide Möglichkeiten in sich. Und doch: Alles kreist um das Thema des Opfers. Welchen Preis hat die eigene Rettung? Noch anders gefragt: Welches Maß an Verlusten im Fortschreiten dulden wir und sprechen dennoch weiter von Fortschritt?

Von Marx gibt es den so schrecklichen, weil tief realistischen Satz, die Geschichte trinke ihren Nektar aus den Schädeln Erschlagener. Und ab wie vielen Erschlagenen hören wir auf, vom Preis des Fortschritts zu sprechen, und konstatieren, dass dies überhaupt kein Fortschritt sei, sondern pure Barbarei? Die Frage also weitet sich. Der durch die Geschichte beschädigte Mensch soll Zeugnis ablegen. Aber er antwortet immer nur zweideutig.

Dies ist Theater im Zustand der Transzendenz. Das Wort – zuerst und zuletzt erscheint es als das der Offenbarung: Fürchte dich nicht! Dieser Abend entzieht sich jeder Kritik. Es ist das Zeugnis eines schwer kranken Regisseurs, der uns sein Vermächtnis übergibt. Wir möchten es hüten wie einen kostbaren Schatz, doch es ist – wie das Leben selbst – aus flüchtigem Stoff gemacht: Zeit. Was wir hier lernen, fast möchte man sagen, unter Tränen lernen: Im Augenblick, der sich seiner bewusst wird, ist Ewigkeit.

Minimalistischer und zugleich unbedingter kann Spiel nicht sein. Das Herausbrechen der Worte aus dem unbestimmten Schweigen. Ineinander fallen die Leiber den Worten hinterher, sich unterbrechend und doch auch einer den anderen stützend, auffangend, führend. Befreiung muss immer auch wieder eine neuerliche Gefangennahme sein, sonst lügt sie. »Idomeneus« bleibt bis zum Schluss zweideutig, also fragmentarisch. Abgebrochen wie jedes Leben irgendwann. Die Klänge, die Meike Droste auf dem Akkordeon und Bernd Stempel mit der Mundharmonika hervorbringen, sind wie Pfeifen im dunklen Wald. Ermutigung, die eigene Angst auszuhalten und weiterzugehen.

Sie alle finden den Rhythmus, der trägt, das allein zählt.

Auch Jürgen Gosch geht hier den Weg weiter, den er mit »Onkel Wanja« und »Die Möwe« anfing zu beschreiten. Ein Maximum an Transparenz und Entzauberung führt eine andere Art von Geheimnis herauf, das unsere Existenz in ihrer ganzen Verletzlichkeit mit großer Stärke ins Bild setzt. Ein Rausch, ganz aus Nüchternheit gemacht. Welch ein Mut!

Nächste Vorstellung: 12. Mai

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