Ich, das Kollektiv

In Hoyerswerda: »Linkerhand«, eine Oper nach Brigitte Reimann

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.
Endlose, sinnlose, verlorene Kämpfe: Yvonne Reich in der Titelrolle
Endlose, sinnlose, verlorene Kämpfe: Yvonne Reich in der Titelrolle

Im Jahr 2000 wird Hoyerswerda 110 000 Einwohner haben!

Das dachte man 1971. Zehn Jahre später waren es tatsächlich 81 000. Die Bewohner der inzwischen eingemeindeten Dörfer hinzugerechnet, wohnen derzeit gut 38 000 Menschen in der Stadt. Hoyerswerda schrumpft und wird »zurückgebaut«. Und ist übrigens im Mai grün und blühend anzuschauen, keine Rede mehr von Staub und schwefligen Kohledünsten.

Als die Architektin Franziska Linkerhand, Brigitte Reimanns Romanheldin, dorthin geht, will sie eine Stadt bauen mit belebten Straßen und Cafés und darf doch nur eines tun: Typenprojekte für einen Wohnungsbau vom Fließband zeichnen. Wohnungen in öder Aufreihung in öder Gegend, möglichst billige und viele, ein Bankrott der Architektur. Franziska reibt sich zwischen Mangel, Bürokratie und Desinteresse auf und verteidigt doch zäh den utopischen Gedanken an eine Stadt, die ihre Bewohner »zu noblen Gedanken bewegt«. Endlose, sinnlose, verlorene Kämpfe.

Der Komponist Moritz Eggert und die Librettistin Andrea Heuser sind für ihre jetzt in Hoyerswerda uraufgeführte Oper »Linkerhand« mit Brigitte Reimanns umfangreichem Romantorso frei assoziierend umgegangen. Mancher Akzent ist anders gesetzt, manches Gewicht verschoben, manches Psychogramm geändert. Aus vielen kurzen Szenen erhellt sich puzzleartig die Persönlichkeit der Heldin und das Konfliktfeld um sie herum. Die große Leistung der Librettistin aber ist es, die kleine Welt von Hoyerswerda in den 60er Jahren in der DDR abstreifen zu können und Fragen offenzulegen, die Zuschauer mit und ohne DDR-Sozialisierung umtreiben.

Andrea Heuser findet heraus, dass es im Roman nur beispielhaft um Städtebau, vielmehr aber um die schmerzende, mitunter rückgratbrechende, bisweilen tödliche Prozedur geht, Individuen, Individualisten gar, in funktionierende Gemeinschaftswesen und in Träger einer normierten Gesellschaftsmoral zu verwandeln. Ganz gleich, ob sich die Gruppe nun »Kollektiv«, gar »sozialistisches Kollektiv« nennt oder »unser Team«.

Außerdem geht es in der Oper um Träume, für die man zu Fuß zum Nordpol laufen oder die man in Rotwein ertränken kann, es geht um Kriegstraumatisierungen, es geht hin und wieder um die Liebe, es geht um die Entscheidung, erquicklich Geld zu verdienen oder beruflichen Idealen hinterherzuträumen. Vor allem aber geht es um die hochgemute Wahl: »Lieber dreißig wilde Jahre anstatt siebzig brave und geruhsame!«

Dass Brigitte Reimann diese Wahl nicht hatte, weil sie mit 39 Jahren an Krebs starb, erzählt die Oper in einer Art lyrischem Intermezzo auch. Dennoch ist das Stück keine Reimann-Devotionalie geworden.

Die Sorgfalt in der Beschäftigung mit dem Stoff brachte die Schöpfer der Oper zu einem erfrischend souveränen Umgang mit ihrer Materie. Der nicht selten spöttische Blick ist den in Selbstironie und Satire geübten Ostlern nicht fremd, da ihnen überheblicher Zynismus fern liegt. »Neustadt SSF, sozial, sicher, fruchtbar« skandiert der Chor der sonnabends fensterputzenden, sonntags grillenden, montags lustvoll arbeitenden Bewohner der einst kinderreichsten Stadt der DDR – und man spürt doch: Wohnung mit Balkon und Platz für die Kinder gilt Eggert und Heuser durchaus nicht als Spießeridyll. Bei den choreografisch bewegten Chorszenen hatte auch Regisseur Sebastian Ritschel seine inspiriertesten Momente.

Geht die Librettistin sparsam analytisch vor, versucht der Komponist die Addition und Summe. Eggerts Musik ist vielfarbig unterhaltsam. Die Titelrolle stellte an die vorzügliche Yvonne Reich alle Anforderungen einer großen lyrischen Sopranpartie, ihr Bruder Wilhelm ist das tenorale Pendant, der Architekt der operntypische Bariton-Gegenspieler. Wenngleich ein dienstbarer Prinzipienreiter, darf er doch an Schubert denken. »Es war, als hätt' der Himmel …« als poetisches Geschenk für Franziska, aber im stampfenden Dreiertakt. Mit dem Engel Aristide, sehr zart Lisa Mostin, gibt es auch eine zerbrechlich heikle Koloraturpartie.

Die kleinen Rollen und über weite Strecken der Chor sind die komischen Personen des Werkes. Schlagermusik, Stilanleihen beim Stampfen der FDJ-Aufbaulieder, Sehnsuchtsschnipsel mit Originaltönen von Bärbel Wachholz und Frank Schöbel, heile Welt mit dem Sandmännchen, hart schneidende elektronische Klänge direkt aus Franziskas Seele: Eggert sammelt Schnurren und Schnipsel, lässt Lachen und Erschauern und die Luft anhalten beim plattesten Schunkel-Schlager. Was, wenn jetzt das Publikum der Verlockung in Hoy-hoy-Hoyerswerda nachgäbe? Es blieb totenstill in der Lausitzhalle – dem Bau, zu dem pilgern kann, wer später einmal wissen möchte, wie er aussah, der sagenumwobene »Palast der Republik«.

Der Görlitzer Generalmusikdirektor Eckehard Stier beackerte das vielschichtig bunte Musikfeld spürbar amüsiert und inspiriert, so dass sich »Linkerhand« zu einer ernsthaften Oper fügte, bei der auch gelacht wurde, zu einem Spiel, das den visionenfressenden Malstrom des DDR-Alltags zu verallgemeinern verstand.

Premiere im Theater Görlitz am 16.5., weitere Vorstellungen am 24., 29. und 30.5.

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