Das Gespenst Stasi lebt

Birthler lobte Jürgen Schreiber und beschimpfte andere Schreiber

  • Hans Canjé
  • Lesedauer: 3 Min.
Im schönen Ambiente, etwa des Grunewalder Löwenpalais, lesen Autoren des »Tagesspiegel« aus ihren Büchern und unterhalten sich bei einem Glas Wein mit Lesern. So die Eigenwerbung des Berliner Blattes für eine Einrichtung, die sich »Tagesspiegelsalon« nennt. »Zu – fast – jeder Lesung reichen die literarischen Köche ein Essen, das zum Buche passt... Abende, die den Kopf und die Sinne anregen«, heißt es weiter. Was hatte Jürgen Schreiber, der für sein Buch »Die Stasi lebt« warb, anzubieten?

Am Mittwoch tagte der Salon im Ambiente vom Domizil der »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR« in der Mauerstraße. Wein gab es diesmal nicht; zur Pause wurde Rhabarbersaft, ersatzweise Mineralwasser zum Reis mit Hühnerfrikassee gereicht – nicht gerade ein Ausweis hoher Ess- und Trinkkultur.

Da hatten die zahlreichen Besucher schon eine Stunde harter Kost genossen. »Die Stasi lebt« heißt das neue Buch von Jürgen Schreiber, der vom Verlag Droemer / Knaur als »einer der besten investigativen Journalisten« klassifiziert wird. Es erzählt von »perfiden Aktionen des Ministeriums für Staatssicherheit«, davon, dass mit dem Fall der Mauer das »Kapitel Stasi noch lange nicht abgeschlossen« ist. Und: »Die Täter von einst leben noch immer unter uns.« Alles in allem: »Der Schatten der Stasi reicht länger, als man glauben mag.«

Wie erwartet, ergriff die Hausherrin Marianne Birthler vorweg selbst das Mikrofon. Sie bezeichnete das MfS der DDR ob seiner Tätigkeit im Westen als quasi »erste Gesamtdeutsche Institution«. Zuckerbrot gab es für Schreiber wie für alle anderen Schreiber seines Stils. Denn »ohne die Medien – unsere Kunden wie unsere Partner – wären wir nur halb so weit, wie wir sind«, ließ Frau Birthler wissen. Dann wurde aber die Peitsche geschwungen. »Einige werden ihrer Aufgabe nicht gerecht«, schimpfte sie.

Schreiber, einstiger Autor des »Tagesspiegel«, ist seiner Aufgabe gerecht geworden. Er las zwei Kapitel aus seinem Buch vor. Da ging es zum einen um Jürgen Fuchs, Bürgerrechtler und Schriftsteller, der, so Schreiber, an den Folgen radioaktiver Behandlung durch das MfS gestorben sei, »für die es bis heute keine Beweise gibt«. Die fehlenden Beweise musste auch der Historiker Jens Giesecke aus dem Hause Birthler einräumen. Eine abschließende Antwort, bekannte er auf Nachfrage, »gibt es nicht«. Das will aber nicht heißen, belehrte er das Publikum im gleichen Atemzug, dass dies gänzlich abwegig, nicht denkbar wäre. So denkt also eine Behörde?! Von ähnlicher Qualität war seine frappierende Äußerung: »Entscheidend ist nicht, dass es nicht passiert ist, sondern dass es hätte geschehen können.«

Dann gab es noch Kohl. Schreiber las sein Kapitel über die Maßnahmen der Staatssicherheit zum Abhören der Telefonate des einstigen christdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Dessen Gespräche seien mit höchster technischer Perfektion abgehört und aufgezeichnet worden, ebenso wie die seiner Mitarbeiter. Da waren Meister ihres Fachs am Werk, ausgerüstet mit Technik Made in Germany (West), ließ er verlauten. Die von ihm aufgeführten Details dürften manchen Zuhörer zu etlichen gedanklichen Vermutungen verleitet haben: Was für erstaunliche Möglichkeiten doch, beim inzwischen rapiden Fortschritt der Kommunikationstechnik, heute mit dem großen Lauschangriff gegeben sind – durch die nach dem Anschluss allein tätige »Gesamtdeutsche Institution« unter Wolfgang Schäuble, selbstverständlich auf »rechtsstaatlicher Grundlage«.

Gerd Appenzeller, Mitarbeiter des »Tagesspiegel« und Moderator des Abends, hatte zur Eröffnung einen überzeugenden Beweis für die Qualifikation seines Kollegen Schreiber vorgetragen: Er kenne keinen Journalisten, »der so viele Bahnhöfe kennt« wie dieser. Sodann äußerte Appenzeller die Hoffnung, dass »nicht ganz so dumme Fragen gestellt werden«. Tat das aber schließlich selbst. Er wollte doch tatsächlich vom Haushistoriker der Birthler-Behörde wissen, wie man zu den jüngst vermehrt und massiv vorgetragenen Forderungen stehe, die hier verwalteten Akten dem Bundesarchiv zu übergeben, auf dass sie professionell gesichtet und geordnet würden. Das sei praktisch das Ende der Forschung, antwortete Giesecke.

Das Bundesarchiv arbeitet nach den bundesdeutschen Gesetzen. Da gibt es Sperrfristen von 30 bis sogar 120 Jahren. Solche Sperrfristen gelten bekanntlich für DDR-Akten nicht. Dies bedenkend, muss man also konstatieren: Es war wieder einmal einer der Abende, »die Kopf und Sinne anregen«.

Jürgen Schreiber: Die Stasi lebt. Berichte aus einem unterwanderten Land. Droemer Knaur, München 2009. 223 S., br., 8,95 €.

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