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»Corpus Delicti«: Juli Zeh sieht Zukunft als Gesundheitsdiktatur
Niemals krank sein. Das klingt verheißungsvoll. Gesundheit allein macht noch nicht glücklich, aber wer stellt sich schon einen glücklichen Menschen mit triefender Nase vor? Warum sonst rangiert Gesundheit bei den Geburtstagswünschen oft noch vor Liebe und Geld? Wie schön muss also eine Zukunft sein, in der jede Krankheit geheilt, nein, noch viel besser, schon bekämpft werden kann, bevor sie entsteht. Kein Krebs, der sich heimtückisch im Körper ausbreitet, kein plötzlicher Herzinfarkt, nie wieder Zahnweh oder Kopfschmerzen. In diese Zukunft schaut die Schriftstellerin Juli Zeh, 34, mit ihrem neuen Roman »Corpus Delicti«. In ihrer Welt Mitte des 21. Jahrhunderts gilt Leukämie als ausgestorben, selbst Schnupfen gibt es nicht mehr. Das gesamte System basiert darauf, ein gesundes und – so wird behauptet – glückliches Leben zu garantieren.
Doch die Sicherheit hat ihren Preis: Jeder Bürger muss all seine Körperfunktionen minutiös protokollieren und an eine Behörde weiterleiten: Schlafbericht, Ernährungsbericht, Bewegungsbericht, der Tag ist voll von Kontrollen. Sensoren in der Toilette messen die Konzentration der Magensäure, ein Bakteriometer die Keime im Hausflur. Und jeder hat die Pflicht, alles zu tun, damit sein Körper optimal funktioniert. Ihm zu schaden, ist ein Verbrechen und wird bestraft: Auf »einmaliges Überschreiten der Blutwerte im Bereich Koffein« steht eine Verwarnung, bei Wiederholung gibt es Vorladungen zum Gericht, wer sich weiter daneben benimmt, wird zu aller Sicherheit eingefroren. In »Corpus Delicti« wird der eigene Körper zu Gegenstand und Beweisstück für eine kriminelle Tat.
Juli Zeh entwirft in ihrem vierten Roman nach »Adler und Engel« (2001), »Spieltrieb« (2004) und »Schilf« (2007) eine Gesundheitsdiktatur, irgendwo zwischen Huxley und Orwell. In einem System, das zentral überwacht, mit welchem Druck das Blut durch die Adern pumpt, ist der Mensch tatsächlich gläsern. Er hat seine letzte Intimität verloren – der Staat ist in den Körper jedes einzelnen Menschen eingedrungen.
Unterschrieben ist der Roman mit »Ein Prozess«. Erzählt wird einerseits der Emanzipationsprozess von Mia Holl, Biologin, Mitte dreißig. Sie macht nicht mehr mit beim Gesundheitswahn, zunächst aus Kummer über den Tod ihres Bruders, später als bewusstes Zeichen. Gleichzeitig läuft ein echter Gerichtsprozess ab. Die Verurteilung Mias als Terroristin bildet Anfang und Ende des Romans. Er liefert Urteilsbegründung und Beweisführung zugleich und liest sich bisweilen auch so: Juli Zeh schreibt konzentriert, argumentiert mehr, als dass sie ausschweifend erzählt. Sie hat den Stoff zuerst als Theaterstück geschrieben, das bei der Ruhrtriennale 2007 in Essen uraufgeführt wurde. Die dramatische Form ist noch zu spüren in einem etwas statischen Arrangement. Ihre Figuren handeln wenig, sie werfen sich vor allem ihre Standpunkte an den Kopf: zum Verhältnis von allgemeinem und privatem Wohl, von Freiheit und Sicherheit.
Ausgangspunkt ist ein Mordfall. Mia Holl will beweisen, dass ihr Bruder Moritz unschuldig für eine Vergewaltigung bestraft wurde. Schon ihr Gedanke ist aufrührerisch, denn eigentlich ist die Sache klar: Das Sperma von Moritz wurde im Körper der Toten gefunden. »Der DNA-Test beendete das Ermittlungsverfahren. Jeder Mensch weiß, dass der genetische Fingerabdruck unverwechselbar ist. Eine Verurteilung auf Grundlage eines solchen Beweises ist juristische Routine.« Die Autorin hat die gegenwärtigen Debatten um biometrische Merkmale und die Dynamik von Bedrohungsszenarien genau verfolgt. Der Fall wie auch seine Auflösung finden überraschende Entsprechungen in jüngerer Vergangenheit, als sich Polizisten von Watte-Stäbchen narren ließen oder Rechtsmediziner von weiblicher DNA im Blut eines toten Mannes.
Moritz ist ein Anarcho-Hippie, der mit unhygienischem Lebensstil gegen alle wissenschaftliche Rationalität verstößt: Er liebt das Angeln, auch wenn die Fische unrein sind, liebt Frauen, egal, ob ihr Genpool zu seinem passt, liebt Zigaretten, obwohl sie die Lunge anfressen. Richtiger gesagt: gerade deshalb. So greift er das Fundament der Gesellschaft an. Die meisten sind dankbar für den Schutz – vor allem, weil sie Angst haben. Jeder Nieser wird für sie zum Menetekel. Moritz dagegen feiert Krankheit als Freiheit, entzieht sich der Überwachung.
Vordergründig knüpft »Corpus Delicti« an gesundheitspolitische Diskussionen an, die wir schon heute kennen: Muss die Gesellschaft zahlen, wenn sich der Skifahrer ein Bein bricht oder der Raucher Lungenkrebs bekommt? Die Geschichte ist jedoch mehr als ein Kommentar zum Gesundheitswahn. Sie verhandelt das Verhältnis von Staat und Individuum, ein Grundthema jeder Gesellschaft, das aber gerade in den vergangenen Jahren eine neue Brisanz bekommen hat. Wie weit darf der Staat eingreifen in das Leben seiner Bürger, wie stark darf er bestimmen, wie sie zu leben haben? Fragen, zu denen die promovierte Juristin regelmäßig in verschiedenen Magazinen klug Stellung bezieht und die sie auch jenseits ihrer publizistischen Arbeit interessieren. So hat sie beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Klage gegen biometrische Reisepässe eingereicht. Auch ihr Roman ist eine Stellungnahme, selbst wenn Juli Zeh in einem Interview einmal behauptet hat, als Autorin keine Botschaften verbreiten zu wollen. Das Streben nach Gesundheit erhebt das Fehlerlose, Störungsfreie zum Ideal. Eine Gesellschaft, die alle Risiken ausschalten will, wird unfrei. Juli Zeh setzt dagegen die Selbstbestimmung des Individuums, Kreativität, Leichtsinn, Gefühl.
»Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann«, sagt Moritz, bevor er sich erhängt.
Juli Zeh: Corpus Delicti. Roman. Schöffling & Co. 264 S., geb., 12,90 €.
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