»Nu, charascho!«

Michail Serebrjakow verewigte sich in Berlin. Von Mauerbildern und Mauerkleidern

Michail Serebrjakow bei der Arbeit
Michail Serebrjakow bei der Arbeit

Serebrjakow signiert. Der letzte Akt. Es ist geschafft, er hat sein »Mauerbild« fertiggestellt – zum zweiten Mal. An der East Side Gallery in Berlin. Hier steht die Mauer noch, allerdings in buntem, schrillem Gewand, nicht nüchtern betongrau. Hier wird auf anachronistisch-anarchische Weise die Erinnerung wachgehalten an den »Eisernen Vorhang«, der die Stadt, Europa, die Welt fast drei Dezennien geteilt hatte.

Zu DDR-Zeiten verlief hier eine Protokollstrecke. An der »Grenzmauer 75« vorbei wurden hohe ausländische Gäste in Staatskarossen vom Flughafen Schönefeld in die Innenstadt kutschiert, zu Amtssitzen von Partei- und Staatsführung oder Gästehäusern. Die undurchdringliche Grenze sollte sich gerade hier »sauber« präsentieren.

Im Frühjahr 1990 wurde die Mauer hier gestürmt – mit Pinseln, Spachteln, Sprühdosen. Über hundert Künstler aus aller Welt verpassten ihr ein neues Gesicht. Während die Mauer ab Juni 1990 aus dem Berliner Stadtbild zu verschwinden begann, wurde der 1,3 Kilometer lange Streifen zwischen Friedrichshain und Kreuzberg, an der Oberbaumbrücke, zur East Side Gallery geweiht.

Gefesselte Euphorie

Seit 1997 ist die größte Open Air Ausstellung unter den Fittichen der vom iranischen Künstler Kani Alavi gegründeten Initiative East Side Gallery, die sich um deren Erhalt und Sanierung bemüht. Regen, Sonne, Wind, Schnee, aber auch unzählige »Mauerspechte« und Graffiti haben den Bildern arg zugesetzt, sie teils stark beschädigt. So sind die Künstler gebeten worden, ihre Werke zu rekonstruieren, damit die East Side Gallery im Herbst dieses Jahres, zum Jubiläum, wieder in alter Frischheit strahlt.

Auch Michail Serebrjakow ist gern der Einladung gefolgt. Der russische Maler hatte im Frühjahr 1990 seinen Daumen an der Mauer hinterlassen. Was symbolisiere dieser, möchte ich von ihm wissen. »Nu, charascho.« Daumen hoch. Es ist geschafft, alles wird gut. Wir haben gesiegt. »Der Daumen ist ein universelles Symbol, das überall auf der Welt verstanden und in allen Lebenslagen angewandt wird. Es ist nicht systemgebunden und nicht politisch zu vereinnahmen.« Aber eine Kette hält den Daumen hoch. Gefesselte Hoffnung? Was wurde aus der Aufbruchstimmung des Herbstes 1989 in der DDR? Hat Serebrjakow geahnt, dass die Euphorie bald verflogen sein würde? Oder soll die Kette den Moment der Freude, des Sieges anhalten, verewigen? Ohne den Daumen ist die Hand gehandicapt, eingeschränkt leistungsfähig.

»Das Jahr 1990 verbindet sich für mich mit Salutschüssen, Champagner, Freudentränen, Umarmungen. Alle Menschen liebten sich. Es war wie in einem Märchen. Der Glaube, dass sich alles verändert, zum Guten für alle, war gewaltig. Aber in einem Märchen gibt es immer auch eine böse Hexe oder einen missgünstigen Zwerg. Nicht alles hat sich erfüllt, was erhofft war. Ich habe mit vielen Ostdeutschen Gespräche geführt, viele sind sehr enttäuscht. Und das kann ich gut verstehen.« – Wie kam der Moskauer zu seinem Bild an der Berliner Mauer? Der Zufall wollte es. Im Frühjahr 1990 war im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft am Festungsgraben eine Ausstellung avantgardistischer Kunst geplant. Serebrjakow war eingeladen. Und er wurde angesprochen, ob nicht auch er sich am Beton versuchen wolle. Damals zählte er 30 Lenze. Es war für ihn eine völlig neue Erfahrung.

Serebrjakow war schon in Berlin, als die Mauer die Stadt noch teilte: 1986, eingeladen von der Kirchengemeinde Zehlendorf. Vier Jahre später war er Gast in der DDR, »residierte« und arbeitete im Schloss Sommerswalde, zehn Kilometer von Oranienburg. entfernt »Da habe ich viele Freunde gefunden. Wir malten zusammen, tranken Bier und schwatzten viel.« So auch im Mai dieses Jahres. Jetzt logierte er aber im Hotel »East Side Gallery«. Das war praktisch, der Arbeitsweg kurz. Er musste nur sicher über eine viel befahrene Straße gelangen. Serebjakow hat Kollegen wieder getroffen, mit denen er sich im Frühjahr 1990 ans große Werk gemacht hatte, das heute unter Denkmalschutz steht und die größte Touristenattraktion Berlins ist. Nach der Arbeit wurde geplaudert und gefeiert. »Wir stellten fest, dass wir alle älter geworden sind. Und ein bisschen weiser.«

Seine Wiege stand in Wolgograd. Dort ist er aufgewachsen und begann seine Künstlerkarriere. Seinen festen Wohnsitz hat er seit Jahren in Moskau. Wie reagierte die Öffentlichkeit in der damaligen sowjetischen Hauptstadt auf die Nachricht, die Mauer in Berlin sei offen? »Unterschiedlich. Manche haben sich gefreut, andere nicht. Viele wussten nicht, wie sie das Ereignis bewerten sollten.«

Zwei Jahre später war Moskau in den internationalen Schlagzeilen. »Der Putsch hat uns alle aufgeschreckt.« Serebrjakow wohnte mit seiner Familie nur drei Trolleybus-Stationen vom Weißen Haus entfernt. »Wir hörten die Schüsse und die Motoren der Panzer. Rauchschwaden hingen in der Luft.« Serebrjakow wollte mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören, was da vor sich ging. »Meine Schwiegermutter verbot es mir. ›Michail, du bleibst hier! Ich lass' nicht zu, dass sie dich erschießen!‹, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.« Am nächsten Tag konnte er seine Neugier nicht mehr zügeln: »Die Fassade des Weißen Hauses war ganz schwarz.«

Der Spuk war bald zu Ende. Der Operettenputsch hat den Kollaps der Sowjetunion beschleunigt. Im Scheitern haben die Putschisten die Entmachtung des ihnen verhassten Gorbatschow erreicht, aber keine Rückkehr in alte Zeiten. »Vor allem junge Menschen haben sich zur Verteidigung des Weißen Hauses bereit gefunden und sich den Panzern entgegengestellt«, sagt Serebrjakow. »Fünf Jahren Glasnost und Perestroika haben das Denken verändert und die Menschen zum Handeln ermutigt.«

Die folgenden gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen sind jedoch nicht allen Bürgern Russlands zugute gekommen, im Gegenteil. Serebrjakow bestätigt: »Als Gorbatschow mit seinen Reformen begann, hat man sich darauf eingelassen, weil es etwas Neues war und Veränderungen wirklich notwendig waren.« Ob das alles letztlich gut und richtig war, will er nicht beurteilen. »Ich halte ich es mit Sokrates. Es gibt keine definitiven Antworten und Wahrheiten.« Die Künstler seien heute freier und wieder auch nicht.

»Zu Sowjetzeiten mussten wir uns nicht um die vielen kleinen beschwerlichen Dinge des Alltags kümmern. Wir wurden vom Staat unterstützt. Das war sehr nützlich, denn so hatten wir einen freien Kopf für unsere Arbeit. Wir reisten durch das ganze Land, gewannen viele Anregungen. Heute finden viele Absolventen von Kunsthochschulen keine Anstellung, müssen sich irgendwie durchs Leben beißen. Aber das ist hier in Deutschland wohl auch nicht viel anders, habe ich gehört.«

In Geschichte gekleidet

Unmündigkeit wurde eingetauscht gegen die Unfreiheit unter dem Diktat des Geldes und Kommerz. Auf einem seiner Gemälde, das mir Serebrjakow in Postkartenformat zeigt, scheint diese Botschaft auf: Ein Turner hängt in den Seilen, die Fesseln gleichen, wie Jesus und blickt angewidert weg vom Kalb, das auf einem Felsen steht, aber kein goldenes ist. Für den Maler ist es wichtig, viele Ausstellungen im Ausland zu gestalten. Er war in der Schweiz, in Österreich, Luxemburg, Frankreich, Spanien und – »nein, nicht Monaco. Gemeinsam mit zwei Kollegen hatte ich mich schon gefreut, als unsere Agentur anrief, es gäbe einen Auftrag dort. Wir haben uns verhört. Nicht das Fürstentum war gemeint, sondern Marokko. Aber wir sind auch gern nach Nordafrika geflogen.«

Welche deutsche Städte hat er schon besucht? »Köln, Bonn, Bremen und Hamburg.« Wo gefällt es ihm am besten? »Berlin liegt mit sehr am Herzen« antwortet Serebrjakow, »weil diese Stadt Künstlern sehr viel bietet. Hier habe ich auch viele Freunde und Bekannte.« Verliebt ist der Maler aber in Paris: »Die prachtvollen Boulevards, die sehnsüchtigen Chansons, das Laissez-faire.« Da ist die Berlinerin enttäuscht. Sie wird getröstet: »Berlin hat Charakter. Ist aber eine männliche Stadt. Und Paris ist feminin.« So klärt sich alles auf.

Serebrjakow ist vor vier Wochen wieder nach Moskau zurückgeflogen. Er konnte nicht miterleben, welchen Applaus am vergangenen Dienstag sein Mauerbild bei einer Modenschau im Hotel Kempinski am Brandenburger Tor erhielt. Der (West)Berliner Modedesigner und Leder-Experte Daniel Rodan hat »Mauerkleider« vorgestellt – unter dem Motto »East Side Gallery goes Fashion«. Die ungewöhnliche Kollektion hat er gemeinsam mit neun weiteren Designern entworfen und Künstler der East Side Gallery gebeten, das zugeschnittene Material mit ihrem Originalmotiv zu verzieren. Da finden sich auch die berühmte Kussszene zwischen Breshnew und Honecker und der die Mauer durchbrechende Trabbi.

Die bereits fertigen Unikate wurden nicht nur von professionellen Models präsentiert. Sängerin Veronika Fischer, die sich ein »deutsch-deutsches Kind« nennt, trug eine lange Lederweste, auf der Stacheldraht und eine aufgehende Sonne zu sehen sind. Sie wird »das gute Stück« auch bei ihrem Ostrock-Auftritt im August tragen, ließ sie wissen. Rodan hat prominente Träger für seine »Mauerkleider« gewonnen, darunter Boxweltmeister Arthur Abraham, Schauspielerin Sophie Schütt und Sänger Udo Lindenberg. Die Designerstücke sollen »für einen guten Zweck bei unterschiedlichen Charity-Events versteigert werden«, erklärt Rodan gegenüber ND. Der Erlös komme den von den jeweiligen Prominenten unterstützten Wohlfahrtsorganisationen zugute. Die Idee war dem Modemacher, der u. a. Tina Turner, Nena, die Bee Gees, David Hasselhoff und sogar Stararchitekt Daniel Libeskind einkleidet, vor zwei Jahren zugeflogen: »Ich dachte mir, es müsse doch möglich sein, diese große Geschichte, den Fall der Berliner Mauer, fashionmäßig zu verarbeiten«, sagt der Mann, der nach eigener Aussage »kein kapriziöser Createur, eher ein kreativer Dienstleister« ist.

Boxweltmeisterin Cecilia Braekhus, die sich für »Ein Herz für Kinder« einsetzt, trug beim Wiegen vor ihrem Kampf in Helsinki am 30. Mai einen Mauer-Bikini und erregte in den finnischen Medien Aufmerksamkeit. In Berlin bekannte sie: »Es ist schon etwas ganz Besonderes, ein Stück Geschichte am Körper zu tragen.« Ob sie die ebenfalls von Rodans Team gestaltete Stacheldrahtkette tragen würde, verriet sie nicht.

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