Sommer in Rheinsberg

Eine Oper in neunzehn Akten und doch keine Seifenoper. Über alte Bekannte und junge Stimmen

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.
Im Heckentheater – Victor Schewtschenko, Juri Alexandrow, Xenia Mamedowa, Alexej Lawrow (1., 3., 4., 5. v.l.)
Im Heckentheater – Victor Schewtschenko, Juri Alexandrow, Xenia Mamedowa, Alexej Lawrow (1., 3., 4., 5. v.l.)

Reisebusse schütten Touristen aus – Claire und Wölfchen sind alt geworden. Beide haben sich chic gemacht: Sie trägt die passende Bluse zum Faltenrock, dazu eine Perlenkette; er Hemd und beigefarbene Weste zur ebenfalls beigefarbenen Hose, die Kamera schlenkert ums Handgelenk.

Kleine Cafés und Restaurants breiten sich auf den Straßen aus und laden unter Sonnenschirme; nicht immer hält die Qualität der Speisen, was deren stolze Preise verheißen. Die Keramikmanufakturen haben die Tore zum Werksverkauf aufgesperrt, Läden locken mit allerlei Nippes, der die Portemonnaies öffnen soll. Vor dem Schloss warten Zweispänner, um Pflastermüde zu kutschieren, für »nur« fünfundzwanzig Euro, die die wenigsten ausgeben mögen – Sommer in Rheinsberg.

Claire in Falten und Wölfchen in Beige besichtigen die Schlossanlage am malerischen Grienericksee. Viel zu groß für Claire und Wölfchen, als dass sie sie gänzlich durchstreifen könnten: Sie hat Probleme mit der Hüfte, er mit dem Herzen und dem Rücken. Immerhin ein paar Sequenzen vom kurzen Spaziergang durch dieses Kleinod, das die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten pflegt, werden sie mit nach Haus nehmen können. Und ein paar Splitter der Geschichte: Preußenprinz Friedrich, später Friedrich II., verbrachte hier von 1736 bis 1740 »die schönsten Jahre seines Lebens«. Nach unglücklicher Kindheit und Jugend unter der Fuchtel des strengen Vaters, des Soldatenkönigs Friedrich Wilh- elm I., nach gescheiterter Flucht und der Katte-Tragödie, versuchte er hier, sich mit seiner Gattin Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern zu arrangieren. Kaum ein schönerer Ort, um zu lesen, sich mit Geschichte, Philosophie und Poesie zu beschäftigen. Als Friedrich 1740, nach dem Tode des Vaters, gekrönt wurde, übergab er das Rheinsberger Anwesen seinem jüngeren Bruder Heinrich. Der ließ das Schloss- und das Heckentheater erbauen und machte Rheinsberg zum Musenhof. All das ist übrigens nachzulesen im Roman »Der Vater« von Jochen Klepper. Klepper, verheiratet mit einer Jüdin, wählte 1942 mit seiner Familie den Freitod. Auch Kurt Tucholsky, dem wir die Liebesgeschichte »Rheinsberg« mit Claire und Wölfchen verdanken, hatte bekanntlich seinem Leben 1935 im schwedischen Exil selbst ein Ende gesetzt. Geschichte auf Schritt und Tritt – Sommer in Rheinsberg.

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Sommer in Rheinsberg: Seit neunzehn Jahren gehört die Kammeroper dazu. Jenes Festival der jungen Stimmen, das der Komponist Prof. Siegfried Matthus begründete. Von Ende Juni bis Mitte August kann man in der Schlossanlage ganz besondere Opernaufführungen und Jahr für Jahr etwas mehr erleben. Matthus hat gerade seinen 75. Geburtstag gefeiert. Bevor es ihn in die Welt der Musik zog, war er in Rheinsberg Gymnasiast. Er wäre nicht zurückgekehrt, verbände er mit dieser Zeit keine schönen Erinnerungen. »Wenn man zwischen vierzehn und achtzehn ist, ist alles schön«, sagt er altersweise. Besorgt schaut er in den Himmel: Wolken sind aufgezogen. Der morgendliche Wetterbericht hat Wärmegewitter nicht ausgeschlossen.

Schon zu DDR-Zeiten hatten Matthus, Kurt Masur und Harry Kupfer die Idee, die Schlossanlage kulturell zu nutzen. Freilich beherbergte sie damals eine Diabetiker-Klinik. Nach dem Ende der DDR fand sich für sie ein anderer Ort. Die Stadtverordneten verhinderten, dass sich eine Hotelkette das Luxushäppchen einverleibte, und Matthus sah seine Zeit gekommen: Er, der weiß, wie schwer junge Sänger es nach ihrer Ausbildung haben, in der Opernwelt Fuß zu fassen, schuf hier eine Institution, die ihnen ebendies erleichtert. Die Musen waren zurückgekehrt.

Überlassen wir Claire und Wölfchen samt ihrer Kamera sich selbst. Der Hof des Kavalierhauses bietet sowieso keine Bilder, die Touristen zu Hause vorzeigen könnten, nur Töne, die aus den Fenstern schweben. Das Gold der Kehlen, Musikschulflair. Es ist Vormittag, Probenzeit. Junge Sänger aus aller Herren Länder studieren ihre Rollen ein. Für viele von ihnen die Möglichkeit, sich unter der Anleitung erfahrener Gesangspädagogen, Dirigenten und Regisseure eine Opernpartie zu erarbeiten. Und abends werden sie auf der Bühne stehen, von einem Orchester begleitet! Womöglich werden sie entdeckt ?

Ein Sommer in Rheinsberg: Das ist der Preis für die Gewinner jenes Gesangswettbewerbs, den die Kammeroper, inzwischen schon traditionell, zu Beginn eines Jahres ausrichtet – in Berlin und in einer Stadt im Ausland. Mehr als 8000 junge Sänger beteiligten sich an den Ausscheiden, 530 schafften es nach Rheinsberg. New York, London, Athen und Wien gehörten zu den Austragungsorten, in diesem Jahr flogen Jurymitglieder zum Casting nach St. Petersburg. Von 460 Teilnehmern in Berlin und St. Petersburg gestalten nun 40 das Festival. Sie wohnen im Kavalierhaus, wo sie auch verpflegt werden. Ein Taschengeld von 500 Euro, von dem die Hälfte die Steuer schluckt, muss ihnen für diese Zeit genügen.

Unter denen, die über St. Petersburg kamen, sind Xenia Mamedowa, Alexej Lawrow und Viktor Schewtschenko. Ab 7. August werden sie im Heckenheater in Peter Tschaikowskys »Eugen Onegin« zu erleben sein: Die Inszenierung sponsern Gazprom Deutschland und die Ostdeutsche Sparkassenstiftung. Mamedowa gibt dann die Tatjana, Lawrow steht als Onegin auf der Bühne und Schewtschenko als Fürst Gremin. Sie alle sind bestens ausgebildet – in Nishni Nowgorod, in der Republik Komi, im ukrainischen Odessa und in St. Petersburg – und sind Preisträger vieler Wettbewerbe. Aber in einer kompletten Opernaufführung haben sie noch nicht mitgewirkt. Sie wissen: In Rheinsberg kann ein Weg beginnen, der sie ganz nach oben führt. Wie die Sopranistin Annette Dasch, der eine Weltkarriere gelang – sie ist gefragt an der Deutschen Staatsoper Berlin, an der Mailänder Scala und an der Metropolitan Opera New York. Der Grieche Aris Argiris singt in Athen, Berlin, Stockholm und am Londoner Covent Garden.

Die hervorragende Ausbildung, die sie in ihrer Heimat genossen, sei das Eine, erklärt Lawrow. Für einen Sänger zähle aber, ob er seine Kunst auch zeigen könne: »Jeder von uns will Menschen bewegen.« Er und Schewtschenko glauben nicht, dass sie in ihrer Heimat einmal ein festes Engagement finden werden. Nach diesem Rheinsberger Sommer wollen sie an ihren Konservatorien ein letztes Studienjahr absolvieren und dann in Richtung Westen aufbrechen. Lawrow hat schon begonnen, Deutsch zu lernen – er wird nach Weimar, an die Musikhochschule »Franz Liszt«, gehen. Mamedowa, die ihr Studium abgeschlossen hat, überlegt noch, was sie »machen soll«. Die Sopranistin, der Bariton und der Bass sind auch deshalb gern in Rheinsberg, weil sie hier lernen, die Welt, die vielleicht auf sie wartet, »nicht nur mit russischen Augen zu sehen«. In den wenigen Tagen, die er hier weilt, hat Lawrow schon einige Unterschiede zwischen seiner Heimat und Deutschland entdeckt. Er zeigt auf das Ufer des Grienericksees: »Wäre dieser See in Russland, würden dort nur Angler sitzen. Die Leute würden baden gehen. Mir gefällt, dass hier auch alte Menschen noch ein kleines Auto fahren oder mit dem Bus verreisen und viel Lebensfreude besitzen.« Ist er Claire und Wölfchen begegnet?

Der »Onegin« wird in Rheinsberg von Juri Isaakowitsch Alexandrow inszeniert. Alexandrow arbeitet in St. Petersburg am legendären Marijnski-Theater und gründete ebenfalls eine Kammeroper. Er inszenierte nicht nur an der MET, sondern als erster russischer Regisseur auch in der Arena di Verona. Ein Gott ist herabgestiegen: Mit ihm den »Onegin« einzustudieren, fordert die jungen Sänger heraus. Auch der Maestro fühlt sich inspiriert: »Alle Sänger müssen in diesen Wochen zu einer Theatertruppe verschmelzen, lernen, dem anderen Partner zu sein. Vor allem müssen sie an mich glauben!« War seine »Turandot«-Inszenierung in Verona mit Weltstars besetzt, die extra eingeflogen wurden und keine Zeit für Proben hatten, sind Mamedowa, Lawrow und Schewtschenko noch formbar. Es fehle ihnen noch »an Gefühl«. Und »wo die ganze Welt zynisch geworden ist«, will der Operngott, der sich am Grienericksees in ein schlabbriges T-Shirt gehüllt hat, in dem er sich offensichtlich wohlfühlt, mit seinem kleinen Nachwuchsensemble »den großen Schatz der Seele heben«. Natürlich meint er die russische Seele. Die Mamedowa und Lawrow per Geburtsrecht zu besitzen meinen. Und der Ukrainer Schewtschenko? »Die russische und die ukrainische Seele sind einander sehr ähnlich«, sagt der. Hört, man versteht sich – Sommer in Rheinsberg.

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Auch Matthus spielt in der Liga der Götter. Einst Meisterschüler von Hanns Eisler, groß geworden an Walter Felsensteins Komischer Oper, gehört er zu den bekanntesten deutschen Komponisten. In diesem Mai wurde sein »Konzert für Fünf« an der Berliner Philharmonie unter Sir Simon Rattle uraufgeführt – bejubelt von Publikum und Kritik. Seiner Einladung nach Rheinsberg folgten in vergangenen Jahren schon Harry Kupfer und Götz Friedrich. Kupfer, sagt Matthus, werde 2011 erneut den Sommer in Rheinsberg verbringen. Aber das ist Zukunftsmusik.

Neben dem Klassiker »Eugen Onegin«, dessen Premiere am 7. August bevorsteht, lockten die Festspiele dieses Jahr mit dem »Liebesverbot« von Richard Wagner. Im Schlosshof gab es Operngalas, Matinees fanden ihr Publikum, und »Der singende See« wurde angenommen. Bis zum 1. August stehen stehen der »Raub der Lukrezia« von Benjamin Britten und nächtliche Satyrspiele auf dem Programm.

Wieder schweift Matthus' Blick zum Himmel: Dunkle Wolkentürme haben sich aufgebaut. Eine Entscheidung ist zu fällen: Riskiert man die Abendaufführung open-air oder verlegt sie in einen Saal, sprich in die Siegfried-Matthus-Arena am Rheinsberger Hafendorf, die vor zwei Jahren eingeweiht wurde. Das Publikum wäre enttäuscht, entginge ihm das Zusammenspiel, die Harmonie von Musik und Natur. Doch selbst Matthus vermochte noch nicht, den Wettergott mit ins Boot zu holen, so dass man Enttäuschung in Kauf nehmen muss. Dies ist nicht Matthus' einzige Sorge. Jedes Jahr kämpft er um neue Sponsoren und darum, keine zu verlieren. Seinem Engagement für den Opernnachwuchs hat er einen weiteren Part hinzugefügt: Er schrieb Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) einen Brief. Darin hat er angeregt, den hochbezahlten Stars der Opernhäuser, »die ja nur vom geistigen Eigentum der Vorgänger wie Mozart und Wagner leben«, ein Prozent weniger Gage zu geben: Junge Komponisten könnten davon ihren Unterhalt anderthalb Jahre bestreiten, während derer sie eine Oper schreiben ...

Beige blitzt hinter den Bäumen auf. Claire und Wölfchen? Was suchen sie dort? Nun, das »Liebesverbot« gilt nur auf der Bühne, nicht im Park und schon gar nicht im Kavalierhaus. Wo so viel Jugend versammelt ist, geraten manche Nächte kurz. Die Tage, selbst verregnete, sind trotz zu wenig Schlafes sonnendurchglänzt – Sommer in Rheinsberg.

Juri Alexandrow, Michael Helmrath (v.l.n.r.)
Juri Alexandrow, Michael Helmrath (v.l.n.r.)
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