Becketts zerbrochene Seelen

»Nestflüchter« und mehr in der Weißenseer Brotfabrik

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.

»Armer Kerl«, sagt der Lahme über den Blinden. Arme Seelen sind sie beide in Samuel Becketts Theaterstück »Bruchstücke 1«. Die Brotfabrik zeigte es in ihrer Reihe »Nestflüchter«. Nur 35 Minuten lang, aber intensiv ist diese Inszenierung mit Till Breyer und Philipp Scholtysik als A, der nicht sehen und B, der nicht gehen kann. Und wie man erleben kann, haben die beiden Versehrten, die sie darstellen weit mehr Schaden im Leben davongetragen, als man auf den ersten Blick erkennt.

Man könnte sich zusammentun, schlägt der Lahme dem blinden Musiker vor. Und so etwas wäre nützlich, denkt man. Doch er, der dem Blinden den Namen seines Sohnes verpasst, denkt nur kurz ernsthaft daran. Diabolisch geschminkt und bis ins Mark verbittert, spielt er mit den Schwächen des anderen. Es ist ein Aberwitz, dass die beiden, die einmal Weib und Kind hatten und beide alles verloren haben, sich nicht trauen und helfen können. Dabei spielen sie eine Annäherung bis zum Körperlichen durch. In einer berührenden Szene bindet der Lahme ein Taschentuch an seinen Stock, um dem Blinden Tränen wegwischen zu können. Doch kurz danach fragt er ihn, warum er nicht aufhört zu leben.

Die beiden Schauspieler sind glaubwürdig in ihren Rollen, obwohl ein Blinder sicher mehr kann, als hier dargestellt wird. Breyer und Scholtysik sprechen ausgezeichnet. Und sie schaffen es mit ihrem Spiel, die Sinne der Zuschauer zu schärfen. Plötzlich hört man die sonst gar nicht wahrzunehmende Lüftung im Theaterraum ackern, wenn der blinde Musiker nach dem Klang einer Saite lauscht. Und man erwartet es kaum noch, da begehrt der Blinde auf. Das letzte bisschen Hoffnung auf eine Chance für die beiden Unglücklichen aber stirbt, als er den Stock des Lahmen zerbricht. Zurück bleiben zwei zerbrochene Menschen, zwei zerbrochene Seelen – alles Bruchstücke.

Verdienstvoll ist diese Brotfabrik-Reihe für Nachwuchskünstler. Denn wie man sah, ist hier niemand aus dem Nest gefallen. Die »Nestflüchter« fliegen schon beeindruckende Runden. Die Bühne in diesem Haus an der Weißenseer Spitze hat unter Leitung von Nils Förster auch weiter zugelegt. Die Besucherzahlen steigen. In diesem Jahr sind es schon 50 Prozent mehr als zum gleichen Zeitpunkt 2008. Bis Dezember sind mehr als 120 Aufführungen mit 40 Künstlergruppen aus Berlin, Briedel, Dresden, Gebersdorf, Hamburg, Heidelberg, München und Rom geplant.

Poesie und Literatur auf der Bühne ist das Hauptthema im September, »20 Jahre Mauerfall« bestimmen den Abendspielplan im Oktober. Auch für Kinder ab zwei Jahren wird viel geboten. Und zur Märchenzeit im Dezember »machen Kinder- und Abendspielplan wieder gemeinsame Sache« kündigt Förster an. Die Galerie der Brotfabrik hat ab September für sechs Wochen einen österreichischen Gast. Der aus der Biophysik kommende Künstler Udo Wid zeigt seine Ausstellung »Quinta Essentia«. Vernissage ist am 4. September, die Schau entwickelt sich jedoch erst im Laufe der Zeit. Wid will in der Ausstellung jeweils eine Minute lang Hirnströme von Besuchern messen, die dazu bereit sind. Er lädt sie dazu in einen Elfenbeinturm ein. Das 2,70 Meter hohe Bauwerk ist Zentrum der Ausstellung. Die Protokolle der Messungen werden an einer Galeriewand dokumentiert.

Brotfabrik, Caligariplatz 1, Weißensee, Tel.: 471 40 01 / 02, Programm und Infos unter www.brotfabrik-berlin.de

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