»Arctic Sea«: Klaus Störtebeker war es nicht

Lug und Trug, keine klaren Fakten: Inszenierung mit Holzfrachter geht weiter. Regie sitzt in Moskau

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.
Die vor drei Wochen unter mysteriösen Umständen verschwundene »Arctic Sea« ist nach russischen Angaben Opfer eines Piratenangriffs geworden. Acht Verdächtige wurden beim Aufbringen des Schiffes am Montag vor den Kapverden demnach festgenommen. Spekulationen schießen weiter ins Kraut.

Kurz nach der Befreiungsaktion am Montag hatte Russlands Verteidigungsminister versprochen, man werde rasch über neue Erkenntnisse berichten. Was Anatoli Serdjukow und sein Ministerium am Dienstag berichteten, war noch immer dürftig. Doch immerhin war da schon von »Piraten« die Rede.

Vier Esten, zwei Letten und zwei Russen haben – so die Darstellung – das Schiff am 24. Juli, einen Tag nach seinem Auslaufen aus einem finnischen Hafen, geentert. Dann hätten sie »die Besatzung unter der Androhung von Waffengewalt gezwungen, ihren Anweisungen zu folgen«, sagte Serdjukow. Das habe sich in schwedischen Gewässern ereignet. Anschließend hätte die 15-köpfige russische Besatzung des unter der Flagge Maltas fahrenden Frachters Kurs Richtung Afrika aufgenommen.

Während die westlichen Marinen angeblich nichts unternahmen, fuhr die gerade aus dem Mittelmeer kommende russische Fregatte »Ladni« Richtung Kapverden und entdeckte – möglicherweise mit Hilfe von dort operierenden russischen Aufklärungsflugzeugen – das angeblich total verschwundene Schiff. Drei Zufälle auf einen Haufen. Erste Meldungen über das Aufbringen des Schiffes sparten jegliche Piraten aus. Gestern sagte Verteidigungsminister Serdjukow, bei der Operation sei kein Schuss gefallen.

Allein der Umstand lässt staunen, denn die angeblich ursprünglich zu einer Übung in der Ostsee abgeordnete Fregatte kann unter normalen Umständen keine auf Geiselbefreiung spezialisierte Soldaten an Bord gehabt haben. Zu fragen ist, warum die mutmaßlichen Kidnapper an Bord blieben, wer ihr Auftraggeber und was ihre Ziele waren. Denkbar ist auch, dass es geheime Verhandlungen zur Aufgabe gegeben hat.

Die bisher bekannten Tatsachen erwecken mehr den Anschein, dass man es mit dem Drehbuch eines Agententhrillers statt mit der Lieferung von Holz im Wert von 1,16 Millionen Euro aus Finnland nach Algerien zu tun hat. Die ganze »Arctic Sea«-Operation war von Anfang an und ausschließlich in der Hand russischer Stellen. Da ist – nach Aussagen des russischen Botschafters bei der NATO, Dimitri Rogozin – Vorsicht geboten: »Diese Operation ist ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man eine solche in die Praxis umsetzt und diesbezügliche Informationen geheim hält«, erklärte Rogozin. Desinformation ist eine Domäne der russischen Dienste. Ein finnischer Polizeisprecher bestätigte die gezielt-falsche Nachrichtengebung: »Das Schiff war nicht so schrecklich verschwunden, wie viele geglaubt haben.«

In den Medien waren Berichte über Sichtungen und Positionsmeldungen des angeblich gekaperten Schiffes in der Biskayabucht, in Nordspanien, bei Gibraltar und vor den Kapverdischen Inseln aufgetaucht. Die Aktion sei »ein voller Erfolg« gewesen, so Rogozin. Russland habe mit der NATO kooperiert, NATO-Streitkräfte hätten aber nicht direkt an der Festsetzung der »Arctic Sea« teilgenommen.

Wer so ehrlich zugibt, Desinformation gezielt einzusetzen, muss sich Spekulationen gefallen lassen. Die letzte Piratenaktion in der Ostsee ist im 19. Jahrhundert datiert. Da man also davon ausgehen kann, dass sich die mutmaßlichen Piraten nicht an der traditionellen Berufsauffassung à la Klaus Störtebeker orientierten, kommen die Begriffe »Schmuggel« und »Konkurrenz« ins Spiel. Drogen? Waffen? Nuklearmaterial? Es gibt Gerüchte, dass Strahlenschutzexperten am finnischen Liegeplatz des Frachters gesichtet wurden. Doch auch das kann eine gezielte Desinformation sein.

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