Geist auf Krücken

Wie kann man Vorurteile überwinden? Kleine Hilfe, auch in Wahlkampfzeiten

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.
Geist auf Krücken

»Dass irgendein Mensch auf Erden ohne Vorurteile sei, ist das größte Vorurteil«, stellte der deutsche Dramatiker August von Kotzebue schon vor über 200 Jahren fest. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Menschen haben Vorurteile: über Ausländer, über Schwule, über Hartz-IV-Empfänger, über Moslems, um nur einige Beispiel zu nennen.

Das Brockhaus-Wörterbuch definiert das Vorurteil als »kritiklos übernommene Meinung, die einer sachlichen Begründung nicht standhält«. Warum aber übernehmen Menschen solche Meinungen? Psychologen antworten darauf gewöhnlich: Weil uns nur selten genügend Informationen zur Verfügung stehen, um eine Sache oder Person wirklich umfassend einschätzen zu können. Und da es in vielen Situationen darum geht, möglichst rasch zu handeln, sind wir häufig gezwungen, uns an Vorurteilen zu orientieren. Das ist keineswegs immer von Übel. Denn so manches Vorurteil beruht auf eigenen Erfahrungen und bewahrt uns beispielsweise davor, einen bösen Reinfall noch einmal zu erleben.

Schwieriger wird es, wenn wir Urteile über Dinge fällen, die außerhalb unseres eigenen Erfahrungshorizonts liegen. Ob Kernkraftwerke besonders störanfällig sind, ob Steuergelder sinnvoll genutzt werden oder ob deutsche Soldaten in Afghanistan für mehr Sicherheit sorgen, all das sind Fragen, bei deren Beantwortung wir in der Regel auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen sind. Nun gut, der Einzelne könnte auch hier versuchen, sich genauer zu informieren. Doch das ist mühsam und kostet Zeit, und daher geben sich die meisten Bürger mit vorgegebenen Antworten zufrieden.

»Menschen sind kognitive Geizhälse«, sagt der Zürcher Psychologe Christian Fichter. Statt selber zu denken, folgen sie gern der Meinung anderer oder bedienen deren Erwartungshaltung. Wie absurd ein solches Verhalten sein kann, demonstrierte Fichter in einem kleinen Experiment. Er legte einer Gruppe von Probanden zwei Artikel über ein Konsumprodukt vor – zunächst im Layout des Schweizer Boulevardblatts »Blick«, dann im Layout der »Neuen Zürcher Zeitung« (NZZ). Und obwohl die Artikel identisch waren, erklärten die meisten Probanden, der »Blick«- Aufsatz sei reißerisch, unseriös und schlecht recherchiert. Den NZZ-Text hingegen bezeichneten sie als spannend, seriös und gut begründet.

Dass die äußere Verpackung oft mehr zählt als der Inhalt, gilt im Prinzip auch für Menschen. In ihrem höchst lesenswerten Buch »Typen & Stereotype« haben die US-Autoren Elizabeth und Stuart Ewen die Entstehungsgeschichte menschlicher Vorurteile nachgezeichnet. Ob Frauenfeindlichkeit, Homophobie oder Rassismus, über Jahrhunderte hinweg prägten die damit verbundenen Klischees und Vorurteile unsere Kultur und tun dies großenteils noch heute.

Amerikanische Sozialpsychologen führten hierzu ein Aufsehen erregendes Experiment durch. Auf einem Bildschirm präsentierten sie ihren Versuchspersonen abwechselnd Männer mit schwarzer und weißer Hautfarbe. Diese hatten entweder eine Waffe in der Hand oder ein Handy. Die Probanden sollten nun auf den Knopf »schießen« drücken, wenn der Mann auf dem Bildschirm eine Waffe trug, und auf den Knopf »nicht schießen«, wenn er unbewaffnet war. Wie echte Polizisten hatten sie dabei wenig Zeit zum Nachdenken. Ergebnis: Alle weißen Probanden erschossen viel häufiger unbewaffnete schwarze als unbewaffnete weiße Männer. Sie ließen sich offenkundig von dem in den USA verbreiteten Vorurteil leiten, das Schwarze »von Natur aus« gewalttätiger seien.

Zwar werden Vorurteile nicht vererbt. Sie werden uns jedoch im Zuge von Erziehung und Sozialisation bewusst oder unbewusst vermittelt und nehmen daher für den Einzelnen oft die Gestalt unbezweifelbarer Wahrheiten an. Oder, wie Albert Einstein einmal sagte: »Es ist schwieriger, ein Vorurteil zu zertrümmern als ein Atom.«

Dass mitunter schon der Vorname eines Menschen genügt, um in unserem Gehirn ein Klischee zu aktivieren, hat der Chemnitzer Psychologe Udo Rudolph in einer Studie nachgewiesen. Danach werden Personen, die eher unmoderne Namen tragen wie Helmut oder Isolde von anderen automatisch als älter und weniger attraktiv eingeschätzt. Namen religiösen Ursprungs wie Sarah oder David nähren die Vermutung, dass deren Träger ebenfalls religiös seien.

Vorurteile belasten nicht nur unser Verhältnis zu anderen Menschen. Sie haben vielfach den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. So schnitten bei einem Mathematiktest an der Stanford University Studentinnen immer dann besonders schlecht ab, wenn man ihnen zuvor mitteilte, dass Frauen generell größere Probleme mit den Testaufgaben hätten als Männer. Mehr noch: Zeigte man den Studentinnen vor dem Test Werbespots, in denen Frauen eine Backmischung anpriesen und somit in einer stereotypen weiblichen Geschlechterrolle zu sehen waren, fiel bei vielen Studentinnen die Leistung ebenfalls ab, wenngleich nicht so stark wie im ersten Fall.

Bleibt die Frage: Wie lassen sich Vorurteile überwinden? »Letztlich nur durch persönliche Erfahrungen«, meint Psychologe Rudolph: »Weltweit sind in jedem Land die Vorurteile gegenüber Ausländern umso geringer, je mehr Kontakte die Einheimischen zu ihnen haben.« Dagegen ist überall dort, wo es keine oder wenige Ausländer gibt, die »Fremdenfeindlichkeit« besonders groß. Das bekräftigt die These, wonach Vorurteile auf einem Defizit an Wissen und Erfahrung beruhen.

Ähnlich wie vorgefasste Meinungen wirken auch stereotype Verhaltensweisen oftmals kontraproduktiv. So halten viele Menschen im Alltag an einmal erworbenen Sozialtechniken fest und suchen selten nach möglichen Alternativen. Auch hierfür ein kleines Beispiel: Wer mühsam gelernt hat, auf seinem Handy eine Nummer zu speichern, ist in der Regel nur schwer zu bewegen, eine neue Speichermethode anzuwenden. In zahlreichen psychologischen Experimenten wurde dieses Verhalten getestet. Ergebnis: Bis zu 60 Prozent der Versuchspersonen rücken bei der Lösung von Aufgaben selbst dann nicht von einem umständlichen, aber einstudierten Algorithmus ab, wenn man ihnen ein Lösungsverfahren zeigt, das einfacher ist und schneller zum Ziel führt.

Wie eingangs erwähnt, fehlen uns, um Vorurteile als solche wahrzunehmen, oft die nötigen Informationen. Das gilt in besonderer Weise in Wahlkampfzeiten, wo das Für-und-Wider-Gezänk von Politikern, um nicht alle über einen Kamm zu scheren, was zweifellos unfair wäre, viele Menschen ratlos macht, da sie zwischen kolportierten Vorurteilen und echter Aufklärung nicht zu unterscheiden vermögen. Doch statt in einer solchen Situation vorschnell zu resignieren, lohnt es sich, zwei Fragen zu stellen, die bereits Sigmund Freud für geeignet hielt, um eine politische Auffassung näher zu beleuchten: Was ist das eigentlich für ein Mensch, der diese Auffassung vertritt? Und warum vertritt er sie, welche Ziele verfolgt er damit? Gelangt man hier zu der Einsicht, dass die Auffassung vorrangig lobbyistischen Interessen dient, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich um ein kolportiertes Vorurteil handelt.

Elizabeth und Stuart Ewen: Typen & Stereotype. Die Geschichte des Vorurteils. Parthas Verlag Berlin, 582 S., 28 €.

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