Politik im Sportanzug

Im Kino: »Berlin '36« von Kaspar Heidelbach

  • Oliver Händler
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Mann läuft durch den Wald. So beginnt »Berlin '36«. Da weiß der Zuschauer noch nicht, dass es sich bei der Person mit schulterlangem gelocktem Haar um eine Frau handelt – Marie Ketteler –, die eigentlich ein Mann ist. Interessant, aber doch nur Nebensache in diesem Film. Es geht in dieser Verfilmung einer wahren Geschichte nicht um Marie Ketteler, sondern um Gretel Bergmann, eine jüdische deutsche Hochspringerin, die 1936 um ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen in Berlin kämpft, am Ende aber doch verliert.

Bergmann, gespielt von Karoline Herfurth, war bereits nach London emigriert, als sich Avery Brundage mit Hitlers Sportfunktionären in Berlin traf. Der US-Amerikaner wollte in Verhandlungen mit den deutschen Organisatoren verhindern, dass seine Landsleute die Propaganda-Spiele der Nazis boykottierten. Der spätere Präsident des Internationalen Olympischen Komitees – jahrzehntelang ein von chauvinistischen Rassisten beherrschter Klub – setzte lediglich durch, dass Juden die Chance bekommen müssten, ins deutsche Aufgebot nominiert zu werden. Die Weltklasse-Hochspringerin Bergmann wird nun zur Symbolfigur und muss zur Vorauswahl zurück ins verhasste Heimatland.

Und hier kommt Marie Ketteler (Sebastian Urzendowsky) ins Spiel, ein junger Mann, dessen Mutter ihn seit der Geburt in Mädchenkleider steckte, der als Frau lebte, aber doch Mann sein wollte. Ein junger Mann, dem die Nazis androhen konnten, ihn in eine Heilanstalt zu stecken, wenn er nicht mitmacht im Spiel gegen »diese Jüdin«. Marie hat nichts gegen die Nazis, fügt sich und freundet sich doch mit ihrer Kontrahentin an. Dabei werden die Geschlechterrollen, wenn schon nicht bildlich, dann doch emotional getauscht. Die zierliche Herfurth wirkt in ihren Allüren hart, der kräftige Urzendowsky weich. Vor allem Herfurth zeigt auf hervorragende Weise trotz schier versteinerten Gesichts immer wieder neue Gefühlsregungen.

Ihr Trainer Hans Waldmann (Axel Prahl) ist systemangepasst, zeigt den Hitlergruß, will aber doch nach Leistung entscheiden. »Es geht hier um Sport, nicht um Politik«, belehrt er seine Vorgesetzten. »Falsch. Es geht darum, das eine mit dem anderen zu verbinden«, klären die ihn auf und schmeißen ihn raus. Prahl mimt den seltenen Opportunisten, der so etwas wie ein Gewissen entwickelt: »Du wirst doch nur noch stärker durch all den braunen Dreck, den sie Dir zwischen die Beine werfen«, motiviert er Bergmann, nicht aufzugeben. Der Rest der Figuren wirft historisch korrekt weiter braunen Dreck.

Kaspar Heidelbachs »Berlin '36« ist ein politischer Film, der im Sportanzug daherkommt. Das »Einer gegen alle«-Prinzip, die alles infrage stellende Verletzung, die motivierenden Ansprachen und die spannende Musik, die hier zum Glück nicht zu pathetisch ertönt, sind typische Elemente eines Sportlerdramas. Erfrischend wie tragisch zugleich bleibt das Happy End aber aus. Bergmann wird ausgeschlossen, als die Amerikaner nicht mehr umkehren können. Die Nazis ließen sich natürlich nicht von einer jüdischen Hochspringerin vorführen. Wer nun gar nichts mit dem Genre Sportfilm anfangen kann, dem ist der Schluss trotzdem noch zu kitschig. Da springen Bergmann und Ketteler in Überblendung und die Springerin Marie lächelt der Zuschauerin Gretel zu, nachdem sie absichtlich die Latte reißt, um den Nazis den Sieg zu verwehren.

Gretel Bergmann hat überlebt. Sie ist 95 Jahre alt, lebt in New York und konnte ihre Geschichte noch erzählen. Eine weitere Geschichte einer Jüdin in den Klauen der Nazis. Eine weitere Geschichte, die erzählt werden musste, um die Erinnerung an ein menschenverachtendes System aufrecht zu erhalten. Und doch wünscht man sich mehr über Marie Ketteler zu erfahren. Hier steckte das wirklich Neue, das Tabu, das immer noch aktuell ist.

Das zeigte jüngst der Fall der südafrikanischen Weltmeisterin über 800 Meter in Berlin, Caster Semenya. Sie wirkte ebenso wenig weiblich wie Marie Ketteler 73 Jahre vor ihr im selben Stadion. Man testet nun ihr Geschlecht und konzentriert sich auf ein simples Mann oder Frau. Ein Ja oder Nein, das bei Semenya alles andere als simpel ist, genauso wie bei Ketteler. Das Andere, das Nicht-ins-Bild-Passende wird verteufelt, damals wie heute. Die schweren psychologischen Auswirkungen auf die Sportlerin bleiben unbeachtet. Leider auch in »Berlin '36«, einem Film, dem das Thema auch nur eine Nebengeschichte wert war. Hier ist die Akzeptanz in der Gesellschaft noch nicht erreicht. Das zeigt auch die »aus Persönlichkeitsgründen« vorgenommene Änderung des Namens. Eigentlich hieß Marie Dora Ratjen, wurde 1937 Europameisterin mit Weltrekord, verlor aber beide Titel, als sie kurz darauf zum Mann erklärt wurde. Danach lebte Ratjen zurückgezogen. Ihre Geschichte kann nicht mehr erzählt werden. Sie starb 2008.

Das Buch zum Film: Berlin '36. Die unglaubliche Geschichte einer jüdischen Sportlerin im »Dritten Reich«, Verlag für Berlin-Brandenburg, 160 S., brosch., 14,90 €.

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