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Bis dass der Tod euch scheidet

Mit der Krise wächst die Konkurrenz und damit der Druck, sich lebenslang weiterzubilden

  • Jens Thomas
  • Lesedauer: 4 Min.
Lebenslanges Lernen: Was für stetige Weiterentwicklung und Persönlichkeitsbildung bis ins hohe Alter steht, hat zugleich enorme Leistungsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft zur Folge.

Nach eins kommt zwei. Wenn Ulrike E. mit ihrer Ausbildung fertig wird, sagt sie, möchte sie gleich noch eine Weiterqualifikation anstreben. Ulrike E. ist 34 Jahre alt, sie arbeitet derzeit als leitende Psychologin in einer Suchtklinik in Brandenburg – nebenher macht sie eine Zusatzausbildung zur Psychotherapeutin. »Im Anschluss daran möchte ich eine weitere Ausbildung im therapeutischen Bereich beginnen«, weiß sie schon heute.

Bildung in der Wissensgesellschaft endet heute nicht mit der ersten Berufs- oder Hochschulausbildung. Lernen im Leben steht für lebenslanges Lernen: An die Idee des »lebenslangen Lernens« ist die Vision von stetiger Weiterentwicklung und Lebenselixier geknüpft. Kurzum: Biografien werden zunehmend zur Bildungsaufgabe. Insgesamt ist der Anteil der Personen, die an Kursen oder anderen Veranstaltungen der beruflichen oder allgemeinen Weiterbildung teilgenommen hat, in den letzten Jahrzehnten erheblich angestiegen: von 29 Prozent im Jahr 1979 auf 43 Prozent im Jahre 2007, wenngleich die Quote zwischen 1997 und 2007 etwas rückläufig war.

Bildung durchdringt heute nicht nur sämtliche Lebensphasen, auch sämtliche Lebensbereiche. Der Psychologe Paul B. Baltes spricht vom »Zeitalter der permanenten Unfertigkeit des Menschen«. Man lerne nicht nur durch Zusatzqualifikationen, meint auch Ulrike E., auch durch ständiges Informieren im Alltag, selbst in der Freizeit. Neben den beruflichen Weiterqualifizierungen verbuchen heute gerade sogenannte »informelle Lernaktivitäten« außerhalb von Kursen und Veranstaltungen eine deutliche Zunahme.

Lernen kann auch überfordern

»Lernen ist das wichtigste Gut im Leben«, sagt Ulrike E.. Bildung und Lernen bereichere die Persönlichkeit, sie stünde für eine permanente Auseinandersetzung. Was einerseits stetige Weiterentwicklung und Persönlichkeitsbildung bis ins hohe Alter bedeutet, hat andererseits enorme Leistungsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft zur Folge. Das weiß auch Ulrike E. »Viele meiner Kolleginnen sind bereits mit ihrer Psychotherapeutenausbildung fertig, da entsteht ein enormer Druck, die Konkurrenz ist groß.«

Allgemein müssen Arbeitnehmer heute mehr Aufgaben übernehmen als vor Jahren und Jahrzehnten. Der Industrie-Soziologe G. Günter Voß spricht von der Tendenz einer zunehmenden »Subjektivierung von Arbeit«, durch die sich die Individuen heute mit ihren gesamten Wissensbeständen und Erfahrungen in die Arbeit einbringen müssen. Lernen fordert die Menschen somit nicht nur heraus, Lernen kann auch überfordern. Gerade der Anteil der psychischen Erkrankungen an den Gesamtkrankheitstagen ist durch zunehmende Arbeitsintensität, Hektik, Zeit- und Termin- und Leistungsdruck enorm angestiegen, lautet das Fazit einer Studie des wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) aus dem Jahre 2005. Einerseits sind die Menschen heute selbst in der sogenannten »dritten Lebensalters«, also im Alter von 60 bis 70 Jahren, mental fitter und lernfähiger als vor Jahrhunderten und Jahrzehnten; auch ist ihr Gesundheitszustand dank des medizinischen Fortschritts subjektiv und objektiv besser als früher. Andererseits geht es beim lebenslangen Lernen um die »Optimierung von Lernprozessen im Hinblick auf deren Relevanz für ökonomisch verwertbare Arbeit«, wie der österreichische Bildungsforscher Erich Ribolits in Bezug auf die »Bereitschaft zum lebenslangen Lernen« betont.

In der bildungspolitischen Diskussion der vergangenen Jahrzehnte – und besonders seit Mitte der 1990er Jahre – hat der Begriff des lebenslangen Lernens eine strategische und funktionale Zuspitzung erhalten. Lebenslanges Lernen steht gewissermaßen für eine »neue Art, die Bildungsaufgaben spätmoderner Gesellschaften zu bestimmen«, resümieren die Autoren Peter Alheit und Bettina Dausien. Das Recht der Partizipation an den prinzipiell »knappen Früchten der gesellschaftlichen Arbeit« stünde nur jenen zu, so Ribolits, die ihre grundsätzliche Austauschbarkeit akzeptiert hätten und sich permanent um ihre weitere und bessere Vermarktbarkeit bemühen würden.

Flexibilität, Kommunikationsfähigkeit und Mobilität wurden zu Parametern auf dem Arbeitsmarkt, das gilt bis ins hohe Alter, man lernt bis zum Sterbebett. Gerade älteren Arbeitnehmern werden jedoch oftmals Mängel in Form von Inflexibilität und fehlender Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen zugeschrieben. Eine Verschlechterung der Intelligenzleistung wurde in vielen Studien aber erst bei Probanden in sehr hohem Alter dokumentiert. Auch zeigten zahlreiche Studien ein größeres beruflich Engagement älterer Arbeitnehmer, ein herabgesetztes Empfinden von Eigenbetroffenheit, eine erhöhte Toleranz bezogen auf alternative Handlungsstile, zugleich sind ältere Arbeitnehmer häufig beruflich zufriedener. Allgemein besitzen sie in vielen Bereichen ein spezifischeres Wissen als jüngere Vergleichsgruppen. Viele Unternehmen sind jedoch um jüngere Arbeitnehmer bemüht.

Bildung als soziales Selektionsinstrument

Bildung für alle? Gerade viele Senioren nutzen heute kaum Möglichkeiten der Weiterbildung. Bildung ohne Praxis reicht dann im Alter oftmals nicht aus, um individuelle Kompetenzen weiter zu entwickeln und sozial integriert zu sein. Und insbesondere ältere Menschen mit Migrationshintergrund oder aus sozial benachteiligten Schichten gehen vergleichsweise kaum auf Bildungsangebote ein. Das Bildungsverhalten und die Bildungsfähigkeit werden wiederum in jungen Jahren geprägt. Bildung fungiert so auch als Selektionsinstrument. Lebenslanges Lernen ist heute gerade für die Gutgebildeten ein die Karriere sicherndes Konzept, viele Geringqualifizierte werden hingegen in Bildungs- und Weiterqualifizierungsmaßnahmen geparkt, um sie in Lohn und Brot zu bringen. In Wahrheit bereitet es einen Teil aber auf ein langfristiges Leben fern des ersten Arbeitsmarktes vor.

Das ist für Ulrike E. kein Problem. Schon jetzt ist sie in einer Führungsposition, und bald möchte sie eine Praxis eröffnen. »Ich habe noch viel vor«, sagt sie. Und »Auslernen« wolle sie sowieso nie.

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