Oh Deutschland, bleiche Mutter ...
Rückblick auf das Musikfest Berlin – ein Höhepunkt: Hanns Eislers »Deutsche Sinfonie«
Das Musikfest Berlin 09 ist zu Ende. Zweieinhalb Wochen lang war hervorragende Musizierkunst mit zahlreichen internationalen Orchestern zu erleben. Zeitgenössisches hatte Vorrang, konkurrierte mit reizvollem klassischen Gegenpol (Haydn). Ein erstaunlich konzentriertes und beifallfreudiges Publikum (darunter viele junge Leute) zeigte sich offen für Ungewohntes bis Fremdes.
Den brillanten Schlusspunkt setzte die Junge Deutsche Philharmonie. Junge Leute bewährten sich durch vorzügliches Musizierniveau bei schwierigen Kompositionen unter ihrer zeitweiligen Chefin Susanna Mälkki. Warum sind Frauen am Dirigentenpult immer noch Ausnahme? Dass sie es können, war an diesem Abend im Konzerthaus überzeugend präsent durch Energie und Charme, Temperament und Präzision: ein blitzblanker Haydn (Nr.104, letzte Londoner Sinfonie), das erfrischende supervirtuose Trompetenkonzert von Bernd Alois Zimmermann, jazzig und instrumental voller Überraschungen, mit dem wunderbaren Solisten Marco Blaauw, ferner eine Novität von Enno Poppe, die unter dem merkwürdigen Titel »Markt« Klangraffinessen emotionslos zum Verbrauch anbietet, und Schostakowitschs »Erste«, durch die der erst Achtzehnjährige international bekannt wurde.
Die Sinfonien Schostakowitschs, gleichsam eine Achse des Gesamtprogramms, gerieten zur Attraktion dieses Musikfests, darunter die konfliktgeladene, tragische »Vierte« mit den Philharmonikern unter Simon Rattle (kaum je so spannungsvoll zu hören). Neben anderem wird indes auch Luigi Nonos »Canti di vita e d'amore« unvergessen bleiben, eine Mahnung zur Atomkatastrophe von Hiroshima mit den Bamberger Symphonikern unter Jonathan Nott und der hinreißenden Koloratursopranstin Marisol Montalvo, die an der Seite Niclas Oettermanns (Tenor) mit Klagegesang in schwindelnd hoher Stimmlage bewegte.
Besondere Aufmerksamkeit verdient ein Konzertabend in der Philharmonie, ein Programm mit kontrastierenden Musiken aus dem letzten Jahrhundert. Das Deutsche Symphonie-Orchester und Chefdirigent Ingo Metzmacher haben diese Klangwelten flexibel und opulent realisiert. Im Mittelpunkt stand Hanns Eislers »Deutsche Sinfonie«, sein umfangreichstes Werk, eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Durch Soli, Sprecher, Chor und Orchester werden Terror und Unterdrückung durch die Naziherrschaft angeklagt, wird zum Widerstand aufgefordert. Es ist ungeschminkte politische Musik, deren Wirkung noch immer überspringt. Die leidenschaftliche Kraft des Protestes, die Trauer um die Opfer, die Resignation der Niederlage gehen in Eislers treffender Gestaltung und der seines Textdichters Bertolt Brecht unter die Haut. Das aus Brechts »Kriegsfibel« gleichsam als gedankliches Zentrum vorangestellte Motto bewegt: »Oh Deutschland, bleiche Mutter, wie bist du besudelt mit dem Blut deiner besten Söhne!«. Es gibt in leisem syllabischem Chorgesang den Einstieg zur tragischen Historie unseres Landes.
In weiteren zehn Abschnitten vollzieht sich ein Panorama an textlichen Reflexionen und Klängen: Kantatenhafte Aufrufe (»An die Kämpfer in den Konzentrationslagern«, »Bauernkantate«, »Arbeiterkantate«) wechseln mit songartig Groteskem (»Begräbnis des Hetzers im Zinksarg«, »Erinnerung, Potsdam«). Eisler nutzt fast ausschließlich die Zwöltontechnik und verbindet sie mit seinem zündenden Songstil: Avantgarde und Massenlied in einem.
Unter Metzmachers Dirigat setzten alle Beteiligten exzellentes Können ein: das Orchester mit differenziertem klangprächtigem Spiel, der großartige Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Gerd Müller-Lorenz), die Solisten Christa Mayer (Mezzosopran), Matthias Goerne (Bariton) und Thorsten Grümbel (Bass). Ergreifend schließt das Ganze im schlichten tonalen Chor-Epilog auf Brechts Worte: »Seht unsere Söhne, taub und blutbefleckt«, Fazit des Werkes, das erst 1959 in Berlin uraufgeführt wurde und leider selten zu hören ist.
Interessant und aufregend auch das Programmvorfeld zu Eislers einstündigem Opus. Weitaus mehr Gewicht als das einer Einleitung hatte ein Werk von Iannis Xenakis, dem neben Schostakowitsch im diesjährigen Musikfest bevorzugten Komponisten und außergewöhnlichem Klangerfinder. Zu erleben durch das Orchesterstück »Jonchaies« (1977) – französisch, meint »Röhrichte«, Binsenwuchs an Gewässern – nämlich, massenhaft gleiche Halme, dem Wind ausgesetzt sich anpassend. Eine Metapher wohl für Massen von Menschen. In riesenhafter Besetzung von 109 Musikern entfalten sich schwirrende Klangfelder aus winzigen, fortwährend repetierten Motiven und nicht zu definierenden Harmonien (Streicher) zu ostinater Gemeinsamkeit. Einzelne (Posaunen) treten hervor, verschwinden wieder. Harte Rhythmen und herbe Gestik steigern alles zur gewaltigen Klangwucht. Man glaubt, überdimensionale Protestschreie in rasantem Crescendo zu vernehmen. Doch bleibt alles im Rahmen unerhörter, feinst ziselierter künstlerischer Fantasie und wundervoller orchestraler Kultur der Berliner Musiker.
Auf einem ganz anderen Stern ist Max Regers sinfonische Tondichtung »Die Toteninsel« (1913) nach Böcklins bekanntem Gemälde angesiedelt (hier zum zweiten Mal nach Rachmaninow Thema im Programm des Musikfestes). Wechsel von Stille und Aufschrei, Trauer und Leiden werden in plastischen Klangfarben vorgeführt. Verhalten, doch nicht ohne überschwängliches Pathos, am Ende ins Pianissimo absinkend.
Das Musikfest 09 überzeugte durch eine ansprechende Werkauswahl und exzellente Interpretationen. Auf den folgenden Jahrgang darf man gespannt sein.
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