Dr. Müllers Berufe
Der Chef des Eudora-Verlags sagt: Verleger sind verrückt
Dr. Ralf C. Müller übt viele Berufe aus, etwa zehn, man kann sich leicht verzählen. Jeder von ihnen spielt in seinem Leben eine andere Rolle: Einer verbindet sich mit einem Traum, ein anderer ist ein gar nicht so übler Kompromiss, wieder andere haben sich notwendig gemacht, einer ist gar existenzsichernd. Einfach ist Müllers Leben nicht. Nicht schwarz oder weiß, nicht vorhersehbar, der glückliche Ausgang ungewiss. So leben heute Tausende junger Geisteswissenschaftler: Sie warten auf ihre Chance. Müller sagt: »Das Leben ist hart. Wer das begriffen hat, kann nicht enttäuscht werden.« Er hat es begriffen. Deshalb, so sagt er, könne er auch durchaus Freude empfinden: über einen Sommertag, ein gelungenes Konzert, einen kleinen Erfolg. »Wer glaubt, das Leben schulde ihm etwas, der kann das nicht.«
Im ersten Beruf ist Ralf C. Müller Historiker. Wenn ein Junge, dürstend nach Abenteuern, in einem Land der Burgen aufwächst, kann er praktisch gar nicht anders, als sich von der Geschichte küssen zu lassen. Geschichte wollte er dann auch studieren. Als Sohn einer Arbeiterfamilie aus Reichenbach im Vogtland, mit dem Abitur in der Tasche, stand der Erfüllung des Wunsches nichts im Wege. Sein Studium begann er in Leipzig, im Schicksalsjahr 1989. Wäre die Wende zwei Jahre früher gekommen, hätte sie ihm den Wehrdienst erspart. Wäre sie zwei Jahre später gekommen, wäre sein Studium womöglich vergeblich gewesen: nicht kompatibel mit den neuen Verhältnissen. So gesehen, kam sie rechtzeitig. Als bei den Leipziger Montagsdemonstrationen die Rufe »Wir sind das Volk« laut wurden, fand er das gut und richtig. Als »ein Volk« skandiert wurde, fand er das »doof«: Er hatte gehofft, selbst etwas gestalten zu können. Doch er verstand auch Menschen aus der Generation seiner Eltern, die da sagten: »Wir leben jetzt! Wir wollen uns jetzt etwas leisten.«
Die Jahre im Leipziger »Weisheitszahn« erfüllten seine Erwartungen. Damals studierte man »die Geschichte noch ganz durch«. Es war freilich nie die Zeitgeschichte, die stets ideologiegefesselte, für die er sich interessierte: Es war immer das Mittelalter. Vielleicht lag es an der frühen Prägung, vielleicht hatte er sich unbewusst eine Nische gesucht. Als Nebenfächer belegte er Russistik und Journalistik und absolvierte zwei Auslandssemester, in Großbritannien und in der Ukraine.
Nach dem Magister nahm er seine Dissertation in Angriff. »Wir Ostdeutsche«, glaubt er nicht ganz vorurteilsfrei, womit er ja keineswegs aus dem deutsch-deutschen Kanon ausbricht, »wir Ostdeutsche waren nicht auf den Titel scharf, wir wollten, indem wir promovierten, noch mehr lernen, noch mehr wissen.« Müllers Thema: »Franken im Osten«. Er untersuchte »Art, Umfang, Struktur und Dynamik der Migration aus dem lateinischen Westen in das Osmanische Reich des 15./16. Jahrhunderts auf der Grundlage von Reiseberichten«. Sieben Jahre dauerte das, aber er konnte zugleich eine zehnbändige »Prosopographie der Reisenden und Migranten ins Osmanische Reich (1396-1611)« vorlegen. Eine Prosopographie ist ein Lexikon. Das seine bietet sich als ein »wertvolles und leicht nutzbares Hilfsmittel für die weiterführende ... Forschung« an. Eine Handreichung also für hochspezialisierte Wissenschaftler, wie er selbst einer ist. Aber wie viele Stellenangebote für Wissenschaftler wie ihn gibt es? Wie viele Stellen bieten Archive, Museen, Bibliotheken? Und hätte er dort überhaupt arbeiten wollen? Gern hätte Müller eine Universitätslaufbahn eingeschlagen. Sie wäre, das erkannte er früh, für ihn das Non- plusultra gewesen. Aber auch so unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. So war schon während des Studiums die Idee aufgeblitzt, einen historischen Fach- und Sachbuchverlag zu gründen.
Seit 2004 übt Dr. Müller seinen zweiten Beruf aus, den des Verlegers. Er zog aus dem Studentenwohnheim aus, nahm sich eine eigene Wohnung und legte los. Sein Verlag besteht nur aus einem Mitarbeiter – aus ihm. Einquartiert hat er den Verlag in seinem Wohnzimmer. Das Zimmer, so winzig es ist, atmet Stil: Esstisch für vier, sonnengelbes Sofa, sonnengelbes Bild an der Wand, in einer Ecke der Computer. Dort arbeitet er. Müller arbeitet nicht nur am Computer, aber dort am liebsten. Demnächst soll sich seine beengte Situation übrigens verbessern: Als Mitglied im Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat er ein Zimmer im Leipziger Haus der Literatur mieten können. Noch nutzt er den Raum nur als Abstellkammer, doch bald will er dort so etwas wie eine Verlags-Außenstelle einrichten. Ein weiterer Grund zu expandieren: Immer wieder bewerben sich bei ihm junge Leute um Praktika. Ein Praktikant oder eine Praktikantin könnten ihn entlasten. »Aber es darf nicht der Eindruck entstehen, dass der Weg zum Schreibtisch am Bett vorbeiführt.«
Den Verlag hat er nach Eudora benannt, einer Nymphe aus der griechischen Mythologie. Das Verlagslogo zeigt, wie er sie sich vorstellt: als zeitlose Schönheit mit gerader griechischer Nase, streng und geheimnisumwoben. In gewisser Weise ist der Name Programm: Die Bücher, die er verlegt, sollen Geheimnisse lüften.
Zu den ersten Büchern des Eudora-Verlags gehörten seine Dissertation und die bereits erwähnte Prosopographie. Jahr für Jahr kommen Bücher hinzu. Inzwischen kann er Titel wie »Feuerwaffen für den Sultan. Kriegswesen und Waffenindustrie im Osmanischen Reich« von Gábor Ágoston vorweisen oder »Von Budapest nach Istanbul. Die Via Traiana im Spiegel der Reiseliteraur des 14. bis 16. Jahrhunderts« von Mihailo Popovic. Auch »Die ältesten Urkunden aus dem Stadtarchiv Worms (1074-1255) oder »Die ältesten Urkunden der Erzbischöfe von Mainz (888-1109)« sind bei »Eudora« erschienen – sehr spezielle Literatur für sehr spezielle Interessenten. Aber auch »Mare Venetiarum. Die Ägäis im Mittelalter« von Jörg-Dieter Brandes hat Müller verlegt – »ein Buch, das man auf Rhodos in die Sonne halten kann, wenn man etwas über den geschichtlichen Raum erfahren möchte«. Ebenfalls einem breiteren Publikum empfehlen sich Titel wie »Weggehen – Wiederkommen. Zeichen aus einer schicksalhaften Epoche Griechenlands«, eine Hommage an den Maler Fotis Zaprasis, oder »Die Wehrmacht in Griechenland – und ihre Kinder« von Kerstin Muth.
Einen Kompromiss will Müller den Verlegerberuf, seit er ihn ausübt, nicht mehr nennen. Denn übt man ihn aus, empfiehlt es sich, Starqualitäten an ihm zu entdecken: Ein Buch in die Welt zu setzen, das ist schon etwas! Und was für ein Gefühl von Stolz, wenn er ein neues Buch in der Hand hält! Ein gutes Gefühl verschafft es ihm offenbar auch, dass er sozusagen dient: Anders als einige große Wissenschaftsverlage lässt er sich von Autoren nicht dafür bezahlen, dass er ihr Buch herausbringt. Befindet er ein Buch für gut, ist es ihm Lohn genug, dessen Geburtshelfer zu sein. »So verrückt sind Verleger«, sagt er. Renommierten Autoren wie Brandes muss er natürlich, wie große Verlage auch, Honorar zahlen. Gewinn macht er kaum, meistens zahlt er drauf. Einen Gewinn zieht er aber doch aus seiner Tätigkeit: Er bleibt fachlich auf dem Laufenden und behält den Kontakt zu Kollegen.
Eudora-Bücher, das fällt sofort auf, sind aufwändig ausgestattet. Kleine Kostbarkeiten. Wenn andere Verlage beispielsweise Fotos und Abbildungen in einem gesonderten Teil zusammenfassen, weil das kostengünstiger ist, platziert Müller sie dort, wo sie mit dem Text korrespondieren – wegen der Lesefreundlichkeit. Kaum zu glauben, dass er vom Lektorieren bis zur Gestaltung alles allein erledigt. So ist er Text- und Bildredakteur, Korrektor, Typograph und Layouter, manchmal auch Übersetzer und Herausgeber. Für all das hat er ein Händchen. Glorifizieren will er das nicht: »Man macht auch Fehler.«
Der größte »Fehler« ist ihm mit dem opulenten Bild-Text-Band »Zigeuner am Schwarzen Meer« von Elena Marushiakova, Udo Mischek, Vesselin Popov und Bernhard Streck unterlaufen. Zigeuner? Obgleich die Autoren, Mitarbeiter des Forums Tsiganologische Forschung am Institut für Ethnlogie der Leipziger Uni und der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften, den Begriff wissenschaftlich untermauert haben, hat es doch Protest vom Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland gehagelt. Das Resultat: Von der Tausender-Auflage hat er nur 70 Bücher verkaufen können. Normalerweise lässt Müller von einem Titel nur eine Auflage von 300 bis 500 Stück drucken, aber in diesem Fall hat er eine Ausnahme gemacht, weil das Buch sonst zu teuer geworden wäre – je höher die Auflage, desto niedriger der Stückpreis. Hohe Auflagen lohnen sich sonst deshalb nicht für ihn, weil er sie nicht vertreiben könnte. Er ist auch Vertriebs- und Marketingkraft. Und Kaufmann. Als Kaufmann war Müller, einer von 59 Verlegern in der oft schon totgesagten Buchstadt Leipzig, bisher wenig glückreich. Im ersten Jahr hat er 8000 Euro Verlust gemacht, im zweiten Jahr 4000, im dritten einen kleinen Gewinn, das vierte Jahr schloss er, weil er so viele Bücher verlegte, mit einem desaströsen Ergebnis, einem fünfstelligen Minus ab. Nach der ersten Hälfte dieses dieses Jahres ist er vierstellig im Plus. Schaun wir mal.
Gäbe es noch das Land, in dem er einst zu studieren begann, wäre Dr. Ralf C. Müller heute wahrscheinlich Prof. Dr. Ralf C. Müller. Er wäre parteilos, an der Akademie der Wissenschaften, würde gelegentlich zu Kongressen ins nichtsozialistische Ausland fliegen, und er besäße ein Häuschen im Grünen. Manchmal, wenn alles auf eine Katastrophe zuzulaufen droht, kann Müller sich das für sich vorstellen. Ist er mit Ach und Krach an der Katastrophe vorbeigeschrammt, kann er das nicht mehr. Wie eh und je zieht er deshalb seine Uniform an, schwingt sich aufs Fahrrad und strampelt zur »Arbeit«. Im »Hauptberuf« ist Müller nämlich Straßenbahnfahrer. Dreißig Stunden in der Woche kutschiert er die Leipziger durch ihre Stadt – er fährt alle Straßenbahntypen und alle Strecken. Damit verdient er sich seinen bescheidenen Lebensunterhalt und finanziert den Verlag. An eine Familie ist nicht zu denken.
Mit dem Straßenbahnfahren hat Müller schon 1989, vor zwanzig Jahren, angefangen. Damals suchten die Leipziger Verkehrsbetriebe händeringend nach Fahrern, auch im Studentensekretariat. Da Müller ahnte, dass er sich von nun an etwas würde dazuverdienen müssen, ließ er sich ausbilden. Inzwischen hat sich bei den Kollegen herumgesprochen, dass ein »Doktor« zu ihnen gehört; sie finden das komisch. Die Fahrgäste wissen nicht, wer sie da fährt. Sie sehen nur einen freundlichen, hilfsbereiten jungen Mann Anfang vierzig, eine gepflegte Erscheinung.
Müller fährt Tag und Nacht. Auch durch den »Gazastreifen« oder die »Bin-Laden-Allee«, wie die Kollegen die Eisenbahnstraße nennen. Dort hat in Leipzig wohl am ehesten eine Ghettoisierung stattgefunden. Der Hauptbahnhofsvorplatz zeigt sich ebenfalls alles andere als einladend. Zwar ist Müllers Situation prekär, doch er ist weit davon entfernt, sich daran zu ergötzen, dass es anderen schlechter geht als ihm. Die Perspektivlosigkeit, die er sieht, bedrückt ihn. Aber manchmal fragt er sich: Vielleicht sind Menschen, die nichts mehr wollen, glücklicher als er? Vor einiger Zeit hat er darüber nachgedacht, den Verlag zu schließen und Karriere bei den Verkehrsbetrieben zu machen. Die nicht stattfindende Personalpolitik der LVB nahm ihm die Entscheidung ab.
So setzt er sich, wenn er spät am Abend nach Hause kommt, weiterhin an seinen Computer. Oder er gestattet sich erst einmal eine halbe Stunde auf seinem kleinen Balkon, zwischen Blumen und Windlichtern. Dann schaut er zu, wie die Sonne untergeht und lässt die Gedanken schweifen: ob es gelingt, den Leipziger Verlegerstammtisch wiederzubeleben, ob er sich auch im nächsten Jahr noch den Stand auf der Frankfurter Buchmesse leisten kann, welches Buchprojekt er als nächstes in Angriff nimmt.
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