Eine Frage des Vertrauens

Eine Berliner Mutter erklärt, warum sie ihren Sohn auf eine Privatschule schickt

  • Lesedauer: 5 Min.
Das staatliche Schulsystem steckt in einer Krise, Ersatzschulen erleben einen Boom. Bereits acht Prozent der Schüler besuchten im vergangenen Jahr eine Privatschule. Die Flucht aus dem staatlichen Schulsystem hat viele Gründe. CHRISTINE HEIMANNSBERG, Mutter eines Berliner Grundschülers, berichtet über ihre bitteren Erfahrungen.
Eine gute Schule braucht nicht viel ND-
Eine gute Schule braucht nicht viel ND-

Ich hab's gemacht. Nachdem ich meinen Sohn vor einem Jahr in einer Kreuzberger staatlichen Grundschule (einer mit hervorragendem Ruf) eingeschult habe, wurde er nun, zum 2. Schuljahr, auf eine freie Schule umgeschult. Und ich sitze in einer Zwickmühle: Müsste ich nicht eigentlich, wenn ich schon in Kreuzberg wohne, meinen Sohn mit der Realität unseres Kiezes konfrontieren und ihn auch dort zur Schule gehen lassen, mit allen Nachteilen? Ist es richtig, Kinder abzuschotten und so zu tun, als sei die Welt in Ordnung – um sie dann mit zwölf Jahren auf die »richtige« Welt loszulassen? Dann, wenn sie nämlich auf eine weiterführende Schule wechseln müssen? Dazu kommt, dass ich nicht zu den Besserverdienenden gehöre und mir das Schulgeld wirklich von den Rippen spare.

Prügelnde deutsche Mittelschichtkinder

Was lief schief? Die Einschulung an sich war toll. Der Direktor warmherzig, klug, mit einer gut vorbereiteten Rede zur Bildungspolitik in Berlin und Beispielen dafür, warum seine Schule so begehrt ist (jedes Jahr Massen von Umschulungsanträgen von Eltern, deren Kinder eigentlich in eine andere Einzugsgebiet-Schule müssten). Es gibt an dieser Schule die Wahl zwischen gebundener Halbtagsschule und Ganztagsschule. In der Halbtagsschule gibt es zusätzlich Montessori-Klassen. Wir, d.h. mein Partner und ich, entschieden uns für die Ganztagsschule, ein Konzept, das in anderen europäischen Ländern wie Frankreich sehr erfolgreich ist, außerdem fanden wir keinen der angebotenen Horte richtig passend. Es hieß, die Kinder hätten im Ganztagsbereich gestaffelten Unterricht (heißt: Freispiel und Unterricht wechseln sich über den Tag ab) bis 15.30 Uhr, daher gäbe es auch nicht die Möglichkeit, das Kind früher abzuholen, z.B. zum Fußballtraining oder ähnliches.

Am ersten Schultag wurde mir schlagartig klar, dass ich von nun an mit meinem Kind (das zum Zeitpunkt der Einschulung noch fünf Jahre alt war) zwischen 8 und 15.30 Uhr nichts mehr zu tun haben würde. Wenn ich meinen Sohn abholte, musste ich ihn in der Regel erst mal suchen – der Schulhof ist riesig, und es gab nur eine einzige Erzieherin, die beim besten Willen nicht 30 Kinder gleichzeitig beobachten konnte. Das System »Ganztagsschule« funktionierte überhaupt nicht, es gab einen massiven Personalmangel, und die Lehrerin hatte keine Lust, auch noch am Nachmittag da zu sein, also wurden unsere Kinder ab dem Mittagessen nur betreut.

Ich durfte mein Kind trotzdem nicht abholen, obwohl mein Sohn mich dringend darum bat. Ich fand dann auch heraus, warum er früher nach Hause wollte: etliche blaue Flecke, verbuddelte Mützen und dreckige Jacken zeugten von seiner Qual am Nachmittag. Wir hatten einen enormen Verbrauch an Cornflakes. Wie ich mitbekam, musste mein Sohn die Gimmicks (in diesem Fall Mini-Laserschwerter) als Tausch gegen einen prügelfreien Nachmittag herausrücken.

Ich sprach dies gegenüber der Lehrerin und den Erziehern an, die auch sehr bekümmert waren, die Vorfälle aber eben nicht mitbekamen. So entstand ein Angstsystem aus Schweigen, denn »Petzen« zog eine Bestrafung nach sich.

Wer nun gewohnt eilfertig denkt, dass die Bösewichte vielleicht Kinder mit Migrationshintergrund waren, den muss ich diesen »Zahn ziehen«. Es waren ausschließlich deutsche Kinder aus gutbürgerlichen Mittelsstandsfamilien. Das Problem waren für mich auch nicht die Kinder, die kleinen Kerle waren selber erst sechs oder sieben Jahre alt, und ihre Aggressionen werden ja auch irgendwo genährt. Das Problem ist das System: viel zu große Klassen, viel zu wenig Personal, Konzeptlosigkeit – ein Mix aus Montessori-Pädagogik und oldfashioned Mathematiklehrerin, die auf Frontalunterricht setzt, haut den charakterstärksten Schüler um. Des weiteren keine Zeit, wirklich am Wissensstand der Kinder anzusetzen.

Beispiel: Mein Sohn konnte vor Schuleintritt noch nicht schreiben, dafür schon im 50iger Bereich rechnen. Es wurde ihm verboten, weiter als bis 20 zu rechnen, mit dem Ergebnis, dass Mathe sein unbeliebtestes Fach wurde. Ab 2. Halbjahr wollte mein Sohn am liebsten gar nicht mehr zur Schule, ich musste mich zusammenreißen, ihn nicht zuhause zu lassen.

Wir haben uns nun für eine Schule entschieden, in der die Klassen sehr klein sind (zur Zeit 16 Schüler), wo die Gespräche zwischen Lehrer und Eltern gesucht werden, in der mein Sohn mit entscheiden kann, wie weit er heute versuchen will zu rechnen, und er ist im Tempo so selbstständig, wie er es braucht. Ich weiß, er wird am Nachmittag nicht nur verwaltet – denn es wird sich mit den Kindern beschäftigt. Es gibt englisch spechende Kinder in der Klasse, und alle Kinder haben ab erster Klasse Englisch-Unterricht. Und wenn er am Nachmittag zum Trompetenunterricht gehen muss, dann wird dies von der Schule begrüßt.

Mehr Geld für Bildung nötig

Ich finde, jedes Kind sollte solche Voraussetzungen vorfinden, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Es ist wünschenswert, dass jedes Kind sich in der Schule (vor allem in der Grundschule) geborgen fühlen kann und die Eltern wissen, was in der Schule passiert. Die Eltern müssen fragen dürfen und unsicher sein, denn Eltern eines Schulkindes zu sein – da muss man auch erst mal hineinwachsen. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass Kinder gewaltfrei ihre Schulzeit verleben und dass ihr Wissensdurst gestillt wird. Aber dafür braucht es viele Kräfte: Engagierte Lehrer, die nicht in eine Situation gesteckt werden, in der Überforderung programmiert ist. Um starke, selbstbewusste, kluge Erwachsene heranzuziehen, muss man viel Geld in Bildung stecken. Kinder wollen lernen. Kinder freuen sich auf die Schule. Der Frust kommt mit den Umständen, nicht durch das Lernen an sich.

Mein kleiner Großer ist übrigens jetzt seit einigen Woche in der neuen Schule und kommt strahlend nach Hause. Er sagte zu mir: »Weißt du Mama, womit du mich echt bestrafen könntest? Wenn ich nicht mehr zur Schule darf!«

Der Text erschien vor wenigen Wochen erstmals im Internet auf www.wechsel-waehler.de.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal