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Epilog zum Drama der Zukunft

»Die Marx-Saga« am Thalia Theater Hamburg

  • Kerstin Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
Familientreffen der dritten Art
Familientreffen der dritten Art

Einziger Einrichtungsgegenstand auf der dunklen, nackten Bühne ist eine riesige Anzeigentafel, darauf steht sehr klein in der Mitte: »Out of Order«. Alle Züge längst abgefahren, insbesondere der der Geschichte? Alle Zukunft von nun an außer Kontrolle, unvorhersehbar?

Der französische Philosoph François Lyotard hat die weltgeschichtliche Epoche, die 1989 zu Ende ging, »das Ende der großen Erzählungen« genannt. Vielleicht war Marx der letzte große Autor der letzten großen Erzählung gewesen. Im Bühnenhintergrund bietet ein fliegender Devotionalien-Händler feil, was von ihr übrig ist: »Kaufen Sie Illustrationen zu Fünf-Jahres-Plänen! Kaufen Sie Rote Sterne!« Die Internationale quäkt aus einem Kofferradio. Im Vordergrund ist niemand. Das ist historisch präzise. Dieser Hintergrund hat keinen Vordergrund mehr. Ist jemand schuld?

Der spanische Autor Juan Goytisolo, wohnhaft in Paris und Marokko, hat einen Roman über Marx und uns geschrieben, »Die Marx-Saga«. Und da das Theater längst einen erstaunlichen Ehrgeiz entwickelte, fast jeden Roman auf seine Bühnenbrettertauglichkeit zu überprüfen, ist Karl Marx jetzt Teil einer theatralischen Versuchsanordnung geworden.

Bei Goytisolo geht auch er der Hauptbeschäftigung eines Mitteleuropäers leicht fortgeschrittenen Alters im 20. Jahrhundert nach: Er sitzt vor dem Fernseher. Er sieht die neurevolutionären Massen in die weitgehend geschlossenen Arme des Kapitalismus fliehen. Konsumenten willkommen, Produzenten gibt es schon genug. Wir haben die Welt immer nur verändert, sollten wir sie einmal wieder interpretieren?

Goytisolos Marx zeigt sich durchaus gelassen, und als ein 20.-Jahrhundert-Schriftsteller aus der Lebensgeschichte des »Kapital«-Autors einen Bestseller machen will, bleibt er bemerkenswert spröde, willigt dann aber doch ein, ihn an seinem Grab in London zu treffen. Soweit Goytisolo. Regisseurin Christiane Pohle verwebt diese und andere Sequenzen in einen surrealistischen Bühnenbilderbogen, der nur allmählich Deutlichkeit und Kontraste gewinnt. Das hier hätte ein Denk-Stück werden sollen, werden müssen – was hätte einer wie Alexander Lang wohl aus diesem Material gemacht!? –, aber hier bleibt alles im geistig Ungefähren. Wie die Marx-Figur selbst.

Josef Ostendorf, dieser schwergewichtige und doch so sensible Schauspieler der leiseren Töne, dem man sofort glaubt, dass aller Geist eine Geisel unseres Körpers ist, wird zum Wiedergänger des Schreibtischrevolutionärs. Ostendorf nimmt dem Polemiker Marx alles allzu Polemische, und das ist dann doch schade. Denn der nicht unbedingt tiefste, den Betroffenen aber unmittelbar wohltuende Sinn einer Wiederauferstehung der Toten dürfte doch darin liegen, diesem akut kommunikationsbehindertem Personenkreis die Gelegenheit zu geben, den Nachgeborenen endlich einmal sagen zu können, was man von ihnen hält. Was also hätte Marx von den Marxisten gehalten, die ihn wie den Kleinen Katechismus hergebetet haben und dann sehr erstaunt darüber waren, dass auch dieser Himmel leer ist?

Aber Goytisolo und seine Regisseurin liefern den Mann eher dem Geist unserer Gegenwart aus. Man interessiert sich für sein Privatleben und setzt ihn in eine Talk-Show, wo er sich zu seiner Schuld am Verbrechen Kommunismus äußern möge. Hier bekommt Marx eine der seltenen Gelegenheiten im Stück, seinem Gegenüber augenblicklich schmerzhafte Bewusstseinserweiterungen zuzufügen. Als Philosoph hat er schließlich das Recht, erst einmal den Begriff des Verbrechens zu klären. – Und lässt sich aus diesem nicht der Begriff menschlicher Kultur überhaupt entwickeln?

Der Verbrecher bringt das Recht hervor, insbesondere das Strafrecht, er schafft Rechtsanwälte, Professoren und Schriftsteller der erfolgreichsten Art, also die Krimi-Autoren. Der Verbrecher entlastet durch seine illegale Tätigkeit den Arbeitsmarkt und immer so weiter … Auch Jenny von Westphalen (Oda Thormeyer) bekommt die Chance, sich eindrucksvoll gegen den zeitgenössisch-feministischen Vorwurf zu wehren, sie hätte an der Seite des großen Emanzipators der Menschheit die eigene Emanzipation versäumt. Auch die tiefe Not der Familie scheint auf. Und tragikkomisch ist das schon: Da wird einer zum großen Börsenspezialisten seiner Gegenwart und hat doch keinen Penny in der Tasche. Denn man kann nicht zugleich an der Börse und im British Museum sein.

Aber das eigentliche Drama des Karl Marx passt wohl auf keine Bühne. Oder doch? Immerhin gab es ihn doppelt. Der Mann, der im British Museum das »Kapital« schreibt, will herausfinden, wann das System ganz von sich aus kollabiert. Denn wenn es nicht an sich selbst untergehen muss, hat der ganze Sozialismus keinen wirklichen geschichtlichen Anhalt. Das ist der Evolutionstheoretiker Marx.

Sein Alter Ego ist der Revolutionstheoretiker Marx, der der Doppelsuggestion seines Jahrhunderts unterliegt. Revolutionen folgen beinahe in Sichtweite aufeinander, sie scheinen zum Normalfall der Geschichte werden zu wollen. Sollte die proletarische da nicht am Horizont schon mit bloßem Auge erkennbar sein? Außerdem glaubt kein Hegelianer, dass all das menschliche Elend, der Preis der industriellen Revolution, ganz ohne höheren Sinn sein sollte. Der Einzelne ist verloren, gewiss, aber gattungsgeschichtlich ist auch sein Opfer gerechtfertigt: nämlich aufgehoben in der nächsten Entwicklungsstufe der Menschheit. Der Revolutions- und der Evolutionstheoretiker unterhielten nur lose Kontakte. Man sollte die beiden endlich einmal einander begegnen lassen. Ja, der doppelte Marx trug das Drama der Zukunft schon in sich. Die Hamburger »Marx-Saga« zeigt höchstens den Epilog.

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