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Der Weg der Selbsterkenntnis
Ein Weltentwurf: »Das Glasperlenspiel« von Hermann Hesse
Den Morgenlandfahrern« – mit dieser Widmung seines großen Alterswerks »Das Glasperlenspiel« von 1942 knüpft Hermann Hesse an die zehn Jahre zuvor geschriebene Erzählung »Die Morgenlandfahrt« an. Der im Orden der Morgenlandfahrer gebündelte »Weltgeist« droht durch Krieg und Ungeist in Europa unterzugehen. Hesse wollte ein geistiges Bollwerk errichten. »Das Glasperlenspiel« ist der Versuch eines großen kulturellen Modells: Durch Verschieben aufgefädelter Glasperlen stellt man interdisziplinäre Verbindungen her. So hängt die Quantenphysik mit Bachs Kantaten genauso zusammen wie die Dichtung Hölderlins mit barocker Architektur. Alles hängt mit allem zusammen – und dieser Gesamtzusammenhang ist das »Glasperlenspiel«, das Streben in die Mitte, ohne die Peripherie aus dem Auge zu verlieren. Genau daraus, aus der Absolutheit des Geistes, kann freilich eine Gefährdung erwachsen, die Hesse bereits in seiner »Morgenlandfahrt« anklingen ließ, als er den Orden der Morgenlandfahrer in kafkaesker Manier absolutistisch herrschend darstellte. Das muss Josef Knecht, Hauptgestalt des Romans, erfahren, der mit12 Jahren in die Eliteschule Kastaliens kam.
Kastalien steht für ein Schulsystem, in dem der Weltgeist in Form des Glasperlenspiels vermittelt und das gebündelte Wissen aufbewahrt und miteinander verknüpft wird. Es existiert neben der Außen-Welt, wird von dieser als notwendiges Übel geduldet. Aber auch die Ordensbrüder Kastaliens blicken verächtlich auf die Welt da draußen, auf die »Sklaven niedriger Mächte«, die vom Gelde und von Ruhmessucht abhängig sind. In Kastalien hingegen herrschen urkommunistische Zustände, es gibt kein Eigentum, kein Geld, keine Ehe, also auch keine Sünde. Man führt ein Leben nach strengen Glaubensgrundsätzen, in das man sich in aller Freiwilligkeit hineinbegibt und also die Freiheit dieses Lebens auskosten kann.
Josef Knecht weiß das zu schätzen. Durch seine offensichtlichen Begabung empfiehlt er sich für höhere Aufgaben. Der Musikmeister des Ordens nimmt sich seiner an. Er ist es, der Josef das ursprüngliche Prinzip Kastaliens nahebringt: »Unsere Bestimmung ist, die Gegensätze richtig zu erkennen, erstens nämlich als Gegensätze, dann aber als Pole einer Einheit. So ist es auch mit dem Glasperlenspiel. Die Künstlernaturen sind in dies Spiel verliebt, weil man darin phantasieren kann; die strengen Fachwissenschaftler verachten es ... Merke dir: man kann strenger Logiker oder Grammatiker und dabei voll Phantasie und Musik sein.« Mit dem Gastschüler Plinio Designori, der all das Rebellische der Welt außerhalb Kastaliens verkörpert, findet Knecht seinen Gegenpol. In organisierten Rededuellen verteidigen beide ihre jeweiligen Welten, und doch sind sie wie Brüder ...
Zunächst genießt Knecht die Zeit des freien Studierens, will in die Tiefe des Glasperlenspiels vordringen, seine innere Struktur verstehen. Gleichzeitig regen sich erste Zweifel: Ist der Weltgeist, dargestellt als Modell, tatsächlich Ersatz für eigenes Erfahren? Was nutzt die Absolutheit des Geistes ohne die Fähigkeit zur Sinnlichkeit? Und beginnt die Freiheit des Studiums mit Aufnahme in den Orden nicht umzuschlagen in Unfreiheit und Zwang? Denn die oberste Ordensregel lautet: »Beruft dich die Behörde in ein Amt, so wisse: jeder Aufstieg in der Stufe der Ämter ist nicht ein Schritt in die Freiheit, sondern in die Bindung.« Besteht nicht die Gefahr einer sektiererischen Diktatur? Auch die Kopfwäsche durch die Ordens-»Polizei«, der jeder unterzogen wird, der den Ordens mit einer Mission verlässt, trägt eher diktatorische Züge. Josef Knecht erlebt das, als er ins Kloster Mariafels versetzt wird, um dort als Glasperlenspiellehrer zu agieren. Seine eigentliche Aufgabe jedoch ist, den dortigen Pater Jakobus vom Anliegen Kastaliens zu überzeugen, eine ständige Vertretung beim Heiligen Stuhl in Rom zu erwirken. Nur, wenn der Pater zustimmt, besteht dafür eine Chance.
Wie seinerzeit die Rededuelle mit Plinio Designori sind auch die Dispute mit Pater Jakobus eine Lebensschule für Josef Knecht. Denn gegen die blutleere Geschichte Kastaliens, die ausschließlich auf der Absolutheit des Geistes beruht, setzt Pater Jakobus die dialektische Einheit von Abstraktem und Konkretem: »Geschichte treiben heißt: sich dem Chaos überlassen und dennoch den Glauben an die Ordnung und den Sinn bewahren.« Nur in der Dialektik von Bewahren und Verändern, von Glauben und Zweifel, von Geist und Tat, von Yin und Yang funktioniert ganzheitliches Leben. Durch diese Lebensschule hindurchgegangen, kehrt Knecht in den Orden zurück, wird zum neuen Glasperlenspielmeister, zum Magister Ludi, berufen, ist in der Hierarchie ganz oben angekommen – dort, wo die Bindung am tiefsten, die Unfreiheit am größten ist. Er versieht sein Amt nach bestem Wissen und Gewissen – und dennoch breitet sich Unbehagen aus. Die beiden Pole des Lebens drohen ihn auseinanderzureißen, er verspürt zunehmend ein »brennendes Verlangen nach Welt, nach Mensch, nach naivem Leben«. Die Wiederbegegnung mit Plinio Designori lässt den Entschluss reifen: Er verlässt den Orden, widmet sich fortan der Erziehung Titos, des widerspenstigen Sohnes von Plinio. Dieser fordert seinen neuen Lehrer gleich zu Beginn heraus: ein Wettschwimmen in eiskalten See, das Josef Knecht nicht überlebt. Im Moment der größten Freiheit lauert der Tod.
Symbolisches Ende mit offenem Ausgang: Ob Kastalien überlebt, oder zugrundegehen wird, bleibt der Spekulation des Lesers überlassen. Von Josef Knecht bleiben einzig ein paar Gedichte und drei Lebensläufe, geschrieben in den Jahren der Studienfreiheit, als Essenz seines Lebens. Sie sind, wie »Das Glasperlenspiel« als Ganzes, Hesses Vermächtnis an die Nachwelt.
Der Weg zur Welterkenntnis führt bei Hesse nur über die Selbsterkenntnis. Und diese wiederum verlangt Rückbesinnung auf die Wurzeln menschlicher Existenz, Verweigerung des materialistischen Zeitgeistes. – Erst Peter Weiss, der mit Hesses »Steppenwolf« sein Initialerlebnis hatte, brachte mit seiner »Ästhetik des Widerstands« das »Glasperlenspiel« zur Vollendung, indem er die soziale Befreiung als Gesamtkunstwerk darstellte.
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