Warum gibt es Sexualität?

US-Forscher nähern sich einem der großen Rätsel der Biologie

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Charles Darwin war nicht nur ein genialer, sondern auch ein bescheidener Forscher. Gelang es ihm nicht, ein Problem im Rahmen seiner Evolutionstheorie zu lösen, gestand er dies freimütig ein. Ein solches Problem stellte sich ihm 1862 in Gestalt der sexuellen Fortpflanzung. Als er bei der Suche nach den letzten Ursachen für deren Vorherrschaft in der Natur nicht so recht vorankam, notierte er: »Die ganze Angelegenheit liegt bisher völlig im Dunkeln.«

Zwar haben Darwin selbst und nachfolgende Biologengenerationen vieles getan, um die Vorzüge der geschlechtlichen Fortpflanzung zu ergründen. Als gelöst gilt das Rätsel der Sexualität jedoch bis heute nicht. Das renommierte Fachjournal »Nature« kam 2007 in einem Aufsatz zu dem fast schon resignativen Schluss: »Die Frage, warum Sexualität eine so verbreitete Reproduktionsstrategie ist, entzieht sich nach wie vor allen Erklärungsversuchen.« Und der bekannte britische Biologe John Maynard Smith sprach gelegentlich sogar von einem »evolutionären Skandal«, den die Sexualität umgebe.

Denn rein quantitativ betrachtet bringt ein Organismus, der sich ungeschlechtlich vermehrt, mehr Nachkommen hervor und gibt seine Gene vollständig an die nächste Generation weiter. Viele Arten pflanzen sich übrigens genauso fort, und manche tun dies sehr erfolgreich. Bleibt die Frage, warum die Natur dann überhaupt die Sexualität erfunden hat. Zumal diese zwei entscheidende Nachteile besitzt: Erstens übertragen sexuell aktive Organismen nur die Hälfte der eigenen Gene in die nächste Generation. Und zweitens müssen Weibchen und Männchen sich erst finden und umwerben, bevor sie zum Geschäft der Fortpflanzung übergehen können. Heute empfinden die meisten Menschen dieses Liebesspiel bekanntlich als lustvoll. Aber als die Sexualität vor vielen Jahrmillionen entstand, konnte von einer lustvollen Kopulation sicherlich keine Rede sein. Das heißt: Es muss seinerzeit andere starke Gründe dafür gegeben haben, dass immer mehr Organismen von der asexuellen zur sexuellen Fortpflanzung übergingen.

Im Kern führen Evolutionsbiologen drei Gründe ins Feld. Erstens erhöht die sexuelle Fortpflanzung die genetische Vielfalt der Organismen, was häufig dazu führt, dass bestimmte Varianten in einer sich verändernden Umwelt bessere Überlebenschancen besitzen. Zum zweiten können schädliche Mutationen, die sich bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung im Genpool ansammeln und nur durch das Aussterben der betreffenden Erblinie verschwinden, durch Sex leichter wieder aus dem Genpool entfernt werden. Drittens schließlich ist die Sexualität ein wirksames Mittel gegen die Gefahr, die von stets wandlungsfähigen Parasiten ausgeht. Bis heute findet zwischen diesen und »höheren« Lebewesen eine Art Wettrüsten statt, welches die Parasiten ohne sexuelle Fortpflanzung wohl längst schon für sich entschieden hätten. Sofern aber die Organismen ihre Gene unentwegt neu mischen, haben es Parasiten schwerer, die Immunabwehr ihrer Wirte zu überlisten.

Um herauszufinden, ob diese Mechanismen auch unter realen Bedingungen greifen, hat ein Forscherteam um Patrick Phillips von der University of Oregon (USA) das recht sonderbare Geschlechtsleben des Fadenwurms Caenorhabditis elegans (C. elegans) genauer untersucht. Würmer dieser Art sind überwiegend Hermaphroditen, die sowohl Spermien als auch Eizellen produzieren. Sie befruchten sich selbst und zeugen dadurch genetisch ähnliche Nachkommen. Daneben existieren aber auch einige Männchen, die mit Hermaphroditen sexuell verkehren. Untereinander paaren sich die Hermaphroditen nicht.

Im Experiment nun veränderten die Forscher die Würmer gentechnisch so, dass sich die Individuen einer Gruppe nur durch Selbstbefruchtung, die einer zweiten Gruppe nur sexuell vermehren konnten. Beide Gruppen wurden anschließend in eine Umgebung gebracht, in der ein für C. elegans gefährliches Bakterium vorkam. Nach 40 Generationen waren die sexuell aktiven Würmer gegen den Erreger immun, während die Selbstbefruchter dadurch weiter dezimiert wurden, schreiben die Forscher im Fachblatt »Nature« (doi:10.1038/ nature08496).

In einem zweiten Experiment setzten Phillips und seine Kollegen die Würmer einer chemischen Substanz aus, die nachweislich Mutationen auslöst. Nach etwa 50 Generationen pflanzten sich die Selbstbefruchter deutlich langsamer fort als zuvor, während in der Sexgruppe ein solcher Unterschied nicht auftrat. Offenkundig hatte der Genaustausch primär dazu beigetragen, die schädlichen Folgen jener Mutationen weitgehend zu neutralisieren.

»Das bestätigt die Erfahrung, dass selbstbefruchtende Populationen mit einer viel höheren Wahrscheinlichkeit aussterben als sexuell sich vermehrende«, sagt Phillips Kollege Levi Morran, der überdies die Meinung vertritt, dass eine monokausale Erklärung für die Entstehung der Sexualität nicht ausreichend sei.

Tatsächlich geht aus neueren Studien hervor, dass asexuell sich vermehrende Populationen selbst bei wechselnder Umwelt oder starkem Parasitenbefall besser gedeihen als Populationen, in denen Sexualität vorherrscht. Fälle dieser Art gibt es zwar nicht viele, aber es gibt sie. Das legt den Schluss nahe, dass bei der Entstehung der Sexualität jeder der oben erwähnten Gründe mal mehr und mal weniger von Bedeutung war, bis sich daraus ein kumulativer Effekt ergab, der die Zweigeschlechtlichkeit fest im Evolutionsverlauf verankert hat. Und um der Sexualität einen zusätzlichen Schub zu verleihen, kam zum reinen Akt der Zeugung irgendwann das Empfinden der Lust. Für viele Säugetiere, wie man annehmen darf, und besonders für Menschen ist allein das Grund genug, den »natürlichen Auftrag« zur sexuellen Fortpflanzung zu erfüllen – obgleich immer die Gefahr besteht, dass die Partnersuche misslingt und damit die Reproduktion scheitert.

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