»Dann geh doch rüber!«

Neben der Ost-West-Migration vergessen: Die Übersiedlung vom Westen in die DDR

  • Rudolf Stumberger
  • Lesedauer: 5 Min.
Das zu Ende gehende Jahr war Superwahljahr, aber mindestens ebenso Erinnerungsjahr. Über den Feiern zum 20. Jahrestag des Mauerfalls blieb ein vergessenes Kapitel der Geschichte allerdings weiter unbeachtet: Dass es auch eine Gegenbewegung gab: Menschen, die Westdeutschland den Rücken kehrten und in die DDR übersiedelten.

»Es ist bis heute kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen, dass die deutsch-deutsche Migration zwischen der Bundesrepublik und der DDR ein Massenphänomen war, das beide Richtungen betraf«, schreibt die Historikerin Andrea Schmelz in ihrer Studie über »Migration und Politik im geteilten Deutschland während des Kalten Krieges«. Mehr als eine halbe Million Menschen siedelten innerhalb von 40 Jahren vom Westen um in den Osten des geteilten Landes. Und auch eine Gruppe Schweizer emigrierte in die DDR.

Flucht in einen untergehenden Staat

Noch im Januar 1990 beherbergte das »Zentrale Aufnahmeheim des Ministeriums für Innere Angelegenheiten« in Röntgenthal bei Berlin-Zepernick 35 Personen. Einer der Übersiedler war Gerd K. Der 33-jährige Dachdecker stammte aus Köln und wollte sich in der DDR in Mecklenburg niederlassen, »der Natur wegen«. Die Bundesrepublik hatte er verlassen, weil ihm »der Scheißladen auf die Nerven« ging. Er war einer von rund 300 Menschen, die in der Endphase der DDR noch in den untergehenden zweiten deutschen Staat übersiedeln wollten.

Wer vor dem Mauerfall in der Bundesrepublik Politik oder Wirtschaft kritisierte, dem wurde dort bei öffentlichen Diskussionen gerne von Männern mit zitterndem Gamsbart auf dem Hut empfohlen: »Dann geh doch rüber!« Es waren vor allem die 1950er und 1960er Jahre, in denen Hunderttausende diesen Spruch für sich wahr machten und in die DDR übersiedelten. So sind nach Angaben der Bundesrepublik allein von 1950 bis 1968 rund 435 000 Personen vom Westen in den Osten emigriert, nach DDR-Angaben gar 646 000. Freilich konnten diese Zahlen nie die Abwanderung beziehungsweise »Republikflucht« aus der DDR ausgleichen, allein 1958 und 1959 verließen zusammen mehr als 310 000 Menschen die DDR.

Bemerkenswert ist, dass rund zwei Drittel der West-Ost-Emigranten sogenannte Rückkehrer waren, also Personen, die zuvor die DDR verlassen hatten. Ein Beispiel: 1950 verließ Franz W. zusammen mit seiner Mutter die DDR. Drei Jahre später kehrte er alleine dahin zurück, da er in der Bundesrepublik keine Lehrstelle finden konnte. Er begann in Erfurt eine Schlosserausbildung. Noch vor Beendigung der Lehre ging er 1956 erneut in den Westen und schlug sich dort mit Hilfsarbeiten durch. Er lernte eine junge Kindergärtnerin mit einem ähnlichen Schicksal kennen. Als die junge Frau 1960 schwanger wurde, entschlossen sich beide in die DDR zurückzukehren. Jung, ohne familiäre Bindung im Westen, ohne Ausbildung und in Existenznot richteten sich ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in der DDR.

In den 50er und 60er Jahren waren es vor allem familiäre und wirtschaftliche Gründe, die für die Übersiedlung in die DDR maßgebend waren. Politische Gründe waren seltener vertreten.

Asyl für Schweizer Kommunisten

Anders war dies bei der Umsiedlung von gut 30 Mitgliedern der Kommunistischen Partei der Schweiz in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und spätere DDR. Sie dauerte von 1946 bis 1966 und umfasste zu Beginn vor allem Angehörige der Intelligenz, die attraktive berufliche Positionen, zum Beispiel an Universitäten, einnahmen. So siedelte 1947 die Schauspielerin Mathilde Danegger in die SBZ über. Ab 1956 waren auch wirtschaftliche Gründe für diese Umsiedlung verantwortlich. In der Hochzeit des Kalten Krieges standen viele Mitglieder der »Partei der Arbeit der Schweiz« vor der Wahl, aus der Partei auszutreten oder ihre Arbeit zu verlieren.

In den beiden ersten Jahrzehnten der (Wieder)Einwanderung in die DDR reagierte der SED-Staat mit der Errichtung von dem Innenministerium unterstehenden Aufnahmeheimen, in denen die Einreisewilligen verbleiben mussten und wo sie überprüft wurden. Man befürchtete die Einschleusung von westlichen Agenten und war an Informationen über die Bundesrepublik interessiert (auf ähnliches Interesse stießen im Übrigen im Westen die Ausreisenden aus dem Osten). Da die Übersiedler oft mehrere Wochen in den Aufnahmeheimen verbringen mussten, waren Konflikte häufig. Zu einer grotesken Szene etwa kam es 1963 im Aufnahmeheim Barby bei Magdeburg, als sieben Heimbewohner um das Gebäude marschierten, das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied sangen und Adenauer und die Bundesrepublik Deutschland hochleben ließen.

Die Bereitschaft der DDR, sich gegenüber Umsiedlern zu öffnen, unterlag Schwankungen. So wird von Historikern für die ersten vier Jahre nach der Staatsgründung konstatiert, wanderungspolitisch dominiere in der SED eine abwehrende Haltung. Aufgrund des Überangebots an Arbeitskräften und der Wohnungsnot wurden Zuzugsberechtigungen sehr zurückhaltend gewährt, ein sozialpolitisch schwieriges Problem stellten auch die Kriegsheimkehrer dar. Auch gegenüber den Schweizer Emigranten war die Grundhalten eher misstrauisch. Nach der Systemkrise des Juni 1953 entspannte sich die politische Situation in der DDR, und von 1954 bis 1957 lässt sich eine Hochphase der West-Ost-Migration feststellen. Mit 70 000 Personen verdoppelte sich allein 1954 gegenüber dem Vorjahr die Zahl der Zuwanderungen.

Agenten und Arbeitsbummelanten

Die Aufnahme der Neu-Mitbürger durch die Bevölkerung der DDR war ambivalent bis kritisch. »In vielen Betrieben bestehen solche Auffassungen, dass die aus Westdeutschland Gekommenen sämtlich Agenten und Arbeitsbummelanten sind«, lauteten interne Berichte. So waren erneute »Abwanderungen« aus der DDR keine Seltenheit. Die Schweizer Emigranten wiederum hatten in der DDR einen Sonderstatus inne, sie konnten nicht Mitglied der SED werden, konnten aber jederzeit ausreisen und waren so schwer zu kontrollieren und disziplinieren. Eine Rückkehr in die Schweiz war zwar möglich, schied aber oft wegen dort fehlender materieller Existenzmöglichkeiten aus. So waren die Eidgenossen keine gleichberechtigten Mitglieder in einer sozialistischen, sondern geduldete Gäste in einer nationalen Gesellschaft, wie das Fazit des Historikers Philipp Mäder in seinem Aufsatz über »Schweizer Kommunisten in der DDR« lautet.

Nach dem Mauerbau ging die Zahl der Umsiedler in die DDR deutlich zurück, von 1964 bis 1984 kamen noch rund 48 000 Menschen in den östlichen Teil Deutschlands. Bis auf das Heim in Röntgenthal wurden alle anderen Aufnahmeheime geschlossen. 1990 setzten sich die letzten Einwanderer in die untergehende DDR zu zehn Prozent aus Westdeutschen zusammen, der große Rest stammte aus der DDR und wollte zurückkehren. Als Gründe wurden oft Heimweh und die Sehnsucht nach Geborgenheit genannt, vielen war das soziale Klima in der Bundesrepublik als zu rau erschienen. Mit der Wiedervereinigung im Oktober 1990 schloss auch das letzte Aufnahmeheim der DDR seine Pforten.

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