Kein Beichtvater weit und breit

Eva Menasse über die lässlichen Sünden der »besseren Leute« in Wien

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Lässliche Todsünden«? Also, Katholiken würden sagen: Entweder »Todsünde« (wofür man in die Hölle kommt) oder »lässliche Sünde« (da hat man im Fegefeuer noch eine Chance). Dass Eva Menasse die Erzählungen ihres Buches den sieben Lastern widmet, mag spielerisch gemeint oder eine Frage der Gliederung sein, um sich keine weiteren Titel ausdenken zu müssen. Auf jeden Fall ist es aufstörend, weil man beim Lesen in die Richtung einer moralischen Forderung gelenkt wird, die den Gestalten nicht mal als Frage bewusst ist.

Doch ist es »Acedia« – Trägheit des Herzens – dass Fritz nicht bei Hilda einzog, die das gern gehabt hätte, sondern nach der Trennung von seiner Frau ganz für die beiden Kinder da sein wollte? Verantwortungsbewusstsein oder Müdigkeit, Feigheit gar – es lässt sich nicht orten. Es ist doch eher das Gegenteil von »Luxuria« – Wollust – wenn Rument seine Frau Joana umsorgt, die er kaum berühren darf, weil sie Angst vor Allergien und Erkrankungen hat. Aber Empfindlichkeit als Laster kennt die katholische Kirche nicht. Dass die 17-jährige Martine, die ihre Lehrerin Fiona anhimmelt, aus derem Vorrat ein Picknick zusammenstellt, hatte doch nichts mit »Gula« – Gefräßigkeit – zu tun. Martine, Tochter aus reichem Hause, war blank, und Fiona war böse, weil sie lieber ihr Herz ausgeschüttet hätte. Nein, es ist alles viel komplizierter als es sich mit dem Wort »Sünde« fassen lässt.

Ilka ließ sich von ihrem Sohn tatsächlich zu einem Zornesausbruch provozieren, worauf dieser seinerseits mit schlimmstmöglichem Trotz reagiert, aber das hatte Gründe, die vielleicht nicht mal sie selber wirklich kennt. Wir erfahren nebenbei, dass Ilkas Schwester Fiona tot ist und ein Kind hinterließ – was ist da geschehen? Auch Ruments jüngerer Bruder kommt ums Leben, wie später offenbar wird – und die Trauergesellschaft teilt sich in die des Vaters und die seiner geschiedenen Frau. Wirklich »Invidia« – Neid, Eifersucht? Wirklich »Avaritia« – Habgier, wenn die freiberufliche Journalistin Nora für eine Recherchearbeit ein Honorar verlangt? Gut, die Lebensgeschichte von Carl Ludwig »Cajou« mag von »Superbia« – Hochmut – nicht frei sein. Aber eigentlich zu Fall gebracht hat ihn nicht sein adliger Dünkel, sondern seine Charakterschwäche, seine Liebesunfähigkeit. Wie hieß »das Mädchen«, das er enttäuschte? Taucht sie – mit Namen – in einer anderen Erzählung auf?

Was können wir wirklich wissen von den Leuten, die Eva Menasse uns da in einprägsamen Situationen vor Augen führt? Wir können sie belächeln oder bemitleiden, aber im Kokon ihrer Geheimnisse behalten sie auch etwas Undurchschaubares. Sogar vor sich selbst spielen sie eine Rolle, was von ihnen erwartet wird und was sie nicht ganz verstehen. Kein Beichtvater verfügbar, keine liebende höhere Instanz. In ihren Irrungen und Wirrungen sind sie allein, auch wenn es, wie man bei aufmerksamem Lesen merkt, durchaus feine Fäden zwischen ihnen gibt. Vielleicht haben sie ja sogar reale Prototypen. Sie gehören zur besseren Gesellschaft in Wien – einer naheliegenden Welt (ob vertrauten, weiß ich nicht) für Eva Menasse, einer fremden für unsereins. Dauernd hatte ich das Gefühl, dass in einem dort allgemein bekannten Versteck noch ein Schlüssel liegt. Einer gewissen Verschmitztheit der Autorin sehe ich mich ausgesetzt – und will mich derweil nicht davon abbringen lassen, die Texte ohne Schlüssel einfach als interessante Menschengeschichten zu lesen.

Eva Menasse: Lässliche Todsünden. Kiepenheuer & Witsch, 253 S., geb., 18,95 €.

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