»Wir wurden von Mal zu Mal frecher«
Neuhaus in Niedersachsen erinnert an den Kolonialisten Carl Peters
Neuhaus (Elbe) – Der Stein ist da. Die Tafel fehlt. »Ach, ist sie mal wieder geklaut?«, fragt Horst Friedrich Härke, der hier lange Pfarrer war: Neuhaus an der Elbe, Ecke Lange Reihe/Parkstraße. Die Parkstraße hieß auch schon Stalinallee, davor trug sie den Namen des berüchtigtsten Sohnes der 5000-Einwohner-Gemeinde: »Unserm Carl Peters. Begründer von Deutsch-Ost-Afrika« ist in den 1,70 Meter hohen Findling graviert, der im Garten des Gemeindehauses steht.
Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler nennt ihn einen »kriminellen Psychopathen«: Am 27. September 1856 kommt Carl Friedrich Hubertus Peters als achtes Kind einer Pastorenfamilie in Neuhaus zur Welt. In Berlin studiert er bei Heinrich von Treitschke Geschichte, hat den Wunsch, »einem Herrenvolk anzugehören«. Während kaufmännischer Lehrjahre in der Weltmetropole London 1882/83 entwirft er eine deutsche Kolonialpolitik. Sein Ziel: Ein »Mittelafrika« gegen die englische Vorherrschaft auf dem schwarzen Kontinent zu schaffen, das gleichzeitig den »Keim für ein deutsches Indien« bildet. Im März 1884 gründet er die »Gesellschaft für deutsche Kolonisation«.
Kleine Geschenke und wertlose Versprechen
Vor 125 Jahren, im Herbst 1884, schreitet er zusammen mit Graf Joachim von Pfeil, Dr. Carl Jühlke und dem Kaufmann August Otto zur Tat. Von Sansibar aus schifft das Quartett sich zusammen mit 36 schwarzen Trägern aufs ostafrikanische Festland ein. Während eines 37 Tage langen Gewaltmarsches erwerben die imperialen Abenteurer bis zum 14. Dezember die Provinzen Usagara, Nguru, Useguha und Ukami – »gegen geringfügige Geschenke und wertlose Versprechen«, wie der Historiker Horst Gründer zusammenfasst. In den Verträgen, durch die Land von insgesamt einer Million Quadratkilometer, größtenteils das heutige Tansania, den Besitzer wechselte, versprechen Peters & Co. etwa, die einheimischen Ethnien »gegen jedermann zu schützen, soweit es in ihren Kräften steht«. Eine belanglose Unverbindlichkeit, die Peters selbst mit den Worten »Wir wurden von Mal zu Mal frecher« kommentierte. Im Februar 1885 bekommt Peters’ Kolonialgesellschaft den angestrebten »Schutzbrief« des Deutschen Reichs.
In Neuhaus ist das Thema nicht sehr aktuell, weder für die CDU-FDP-Mehrheit im Gemeinderat noch für die Opposition. Während in Bremen, Osnabrück, Lüneburg, Bielefeld oder Mannheim um Straßen gestritten wurde und wird, die nach Peters benannt sind, geht es in Neuhaus vordringlich um den Bau einer Elbbrücke oder die geplante Fusion mit den Nachbargemeinden Bleckede und Dahlenburg. Die Elbtalaue-Gemeinde lebt vom Fremdenverkehr, der zu über 90 Prozent aus Fahrradtouristen besteht. Es mangelt an komfortablen Hotels, die Gäste zu Übernachtungen locken könnten. Und abgelegen ist man durch den Elblauf immer noch. In den großen westelbischen Teil Niedersachsen führen nur zwei Fähren. 5,40 Euro kostet ein Ausflug etwa nach Lüneburg mindestens. Irgendwie sei man »mittendrin und doch nicht dabei«, sagt ein Mitarbeiter vom »Haus des Gastes«, der tourist-information in Neuhaus. »Ann Gottes Seegen ist alles gelegen. Anfanck vnd Ende stehet alles in Gottes Hände«, steht am Rathaus, das 1684 zur Sachsenzeit erbaut worden ist.
Der untersetzte Peters betrat Salons nach eigener Darstellung bevorzugt »in Kanonenhosen, Sporen und mit Hetzpeitsche«. Dort stellte er schon mal die prahlerische Frage: »Haben Sie schon einen Neger getötet?« In einem früheren Leben sei er Dschingis Khan gewesen, sein jetziges gleiche dem Napoleons. Unter den Ostafrikanern heißt Peters dagegen »mkono wa damu« – der Mann mit den blutigen Händen. »Als die Adventsglocken in Deutschland zur Kirche riefen, prasselten die Flammen über den großen Kral an allen Seiten in den Himmel«, schildert Peters seine Kolonialpolitik bei den Massai. Prügelexzesse sind an der Tagesordnung. 1891, inzwischen befindet sich Peters auf dem Posten eines Kaiserlichen Kommissars, ordnet er die Erhängung seiner Geliebten Jagodja und seines Dieners Mabruk aus dem Jagga-Volk sowie die Einäscherung ihrer Heimatdörfer an. Jagodja soll mehrfach geflüchtet, dem Herrenmenschen zudem mit Mabruk »untreu« gewesen sein. Der Diener soll einige Zigarren entwendet haben. »Sie unterbrachen ihr Kartenspiel und hielten einmal mehr Gericht«, schildert der englische Historiker und Afrika-Korrespondent Arne Perras den Vorfall.
»Es gibt sicherlich verschiedene Interpretationen von Carl Peters«, sagt Dieter Hubitz, Bürgermeister von Neuhaus, »aber er ist und bleibt ein Verbrecher«. Der CDU-Politiker, der kurz vor der Pensionierung steht, spricht lieber über aktuelle Themen, etwa über die Versuche einer »Nichtauffallgeneration« von Neonazis, in der Gegend Gebäude als Tagungsstätten zu erwerben. Als Gegenbeispiel zu Peters erwähnt er den Mecklenburger Landwirtschaftsminister Till Backhaus, der ebenfalls in Neuhaus zur Welt gekommen sei. »Nach meiner Vorstellung müsste der Stein für Peters weg«, sagt Hubitz, »dafür gab es allerdings keine Mehrheit im Gemeinderat.«
Im März 1896 erlebt Peters seine schwerste Niederlage. Im Berliner Reichstag gerät die Routinedebatte über den Kolonialetat zu einer späten Abrechnung mit dem Kommissar. August Bebel schildert die Blutspur, die »Hänge-Peters«, wie ihn die kolonialfeindlichen Sozialdemokraten nennen, in Ostafrika hinterlassen hat. Auch in bürgerlich-imperialen Kreisen gerät Peters in Verruf. Er soll sich gegenüber einem englischen Bischof zur Verteidigung der Hinrichtungen auf vorkoloniales muslimisches Recht berufen haben. Das passt so gar nicht ins herrschende Bild des moralisch überlegenen christlichen Eroberers, der mit Gottes Gnade die Welt kolonisiert. 1897 wird er unehrenhaft aus dem Reichsdienst entlassen; da ist Peters allerdings schon nach London umgesiedelt und versucht, im Goldbergbau Fuß zu fassen. 1905 vom Kaiserreich rehabilitiert, kehrt er mit Beginn des Ersten Weltkriegs nach Hannover zurück, wo er 1918 stirbt.
1931 wird Peters mit dem Gedenkstein in seiner Heimatstadt geehrt – zwei Jahre, bevor er im nationalsozialistischen Deutschland als Vorreiter deutscher Herrschaftsansprüche gepriesen wird. Sie berufen sich auf einen Peters-Aufsatz von 1905, in dem er für eine »Rassenzüchtung ungestört durch immer erneute Einbuße von außen« plädiert. 1941 spielt Hans Albers die Hauptrolle im NS-Propagandafilm »Carl Peters. Ein deutsches Schicksal«.
Gemeinderat spricht sich für den Stein aus
»Wenn Sie sich mit Carl Peters beschäftigen, werden Sie sehen, dass Sie das Bild vom Verbrecher vergessen können«, ergreift der einstige Pfarrer Härke, der erst vor kurzem in den Kirchenkreis Holzminden zurückgekehrt ist, Partei. Peters sei »ein radikaler Zeitgeist, aber kein Massenmörder« gewesen, ein »sündiger Mensch«, den man »im Lichte seiner Zeit« betrachten müsse. Härke erinnert bevorzugt an den »englischen« Peters, der sich nach 1896 für die europäische Verständigung und den Achtstundentag eingesetzt habe. »Dass man einen radikalen Verfechter der deutschen Kolonialbestrebungen ehrt, ist fragwürdig«, räumt auch der Pfarrer ein. »Wenn ich in Neuhaus gelesen habe, hatte ich schon ein wenig den Eindruck, als Nestbeschmutzer gesehen zu werden«, resümiert Uwe Wieben, der 2000 das jüngste deutschsprachige Werk (»Carl Peters. Das Leben eines deutschen Kolonialisten«) zum Thema verfasst hat.
Die Nazis werden 1945 besiegt. Der Stein bleibt. Eine Brücke über die Elbe nach Neuhaus fehlt. Die ostelbische Gemeinde wird wegen schlechter Versorgungsmöglichkeiten von den britischen Besatzungstruppen an die Sowjets abgetreten. Neuhaus liegt nun nicht mehr in Niedersachsen, sondern in Mecklenburg-Vorpommern, DDR. 1951 schmückten ausgerechnet einige FDJ-Mitglieder den Stein anlässlich Peters’ 95. Geburtstages mit Blumen. Daraufhin wollte die SED-Kreisleitung den Stein eigentlich versenken, entschied sich wegen Transportproblemen jedoch fürs Vergraben. »Ich grabe meinen Namen ein für alle Mal in die deutsche Geschichte ein«, hatte Peters 1884 an seine Mutter geschrieben. Nun liegt sein Stein vergraben, über vier Jahrzehnte lang. Inzwischen fällt die Mauer. Die Neuhauser beschließen 1993, sich nach Niedersachsen einzugliedern. Peters’ Stein liegt noch unter der Erde. »Es gibt niemanden sonst in der deutschen Kolonialbewegung, der mindestens drei wichtige Aspekte zusammengeführt hat, um die imperiale Sache voranzutreiben«, schreibt Arne Perras über den Pastorensohn: »Kolonialtheorie, Werbung in der Öffentlichkeit und koloniale Pionierschritte.«
1994 wird der Stein wieder ausgegraben, als das Neuhäuser Pfarrhaus zum Gemeindehaus umgebaut wurde. Damit beginnt die Kontroverse. Der Gemeinderat spricht sich mit 10:9 Stimmen knapp für die Wiederaufstellung des Steins aus; ergänzend arbeitet der Heimatkundler Werner Hüls eine Erklärungstafel aus, auf der Peters’ Persönlichkeit, seine Taten und auch der Gedenkstein als »umstritten« dargestellt werden. Die Tafel verschwindet regelmäßig, der Stein liegt unerschütterlich da. Unerschütterlicher gar als die Germania, die als Kriegerdenkmal gegenüber dem Rathaus an die Kriegstoten von 1870/71 erinnert. Die schon 1881 aufgestellte Dame erhielt im vergangenen Jahrzehnt für 60 000 Mark ein Lifting, soll nun aber auf den Friedhof wandern.
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