Liebe, Freiheit, Schnelligkeit

Das Stöckelschuhrennen in Madrid hat in diesem Jahr einen besonderen Anlass: Spanien feiert 20 Jahre Ehe für alle

  • Maren Häussermann, Madrid
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Stöckelschuhlauf ist einer der Höhepunkte der Madrid Pride. Óscar Gonzáles Betancort (Mitte) hat bereits zum dritten Mal daran teilgenommen.
Der Stöckelschuhlauf ist einer der Höhepunkte der Madrid Pride. Óscar Gonzáles Betancort (Mitte) hat bereits zum dritten Mal daran teilgenommen.

»Los, los, los«, ruft La Plexy von ihrem Podium in der Mitte der Straße. Mit geübtem Blick beobachtet, mit scharfer Zunge kommentiert die Dragqueen die Kandidatinnen und Kandidaten, die an ihr vorbeirennen und weiter, in eine Allee aus jubelnden Zuschauenden. Auf den Gehwegen zur Linken und Rechten ringen sie darum, einen Blick auf die Stars des Abends zu werfen.

Die Hitzewelle beherrscht Madrid. Das Thermometer zeigt 38 Grad, aber in der engen Straße im zentralen Stadtviertel Chueca ist es noch viel heißer. Einerseits, weil die vielen dicht gedrängten Körper zusätzliche Hitze ausstrahlen, andererseits, weil es genau darum geht, »hot« zu sein. Dragqueens in knappen Outfits sorgen mit Showeinlagen für Stimmung. Es geht um Liebe, um Freiheit, und es geht um Schnelligkeit. An diesem Abend findet der Stöckelschuh-Wettlauf statt, und der ist nichts für Humorbefreite oder Schwache.

Die 15 Zentimeter hohen Highheels wirbeln durch die Luft und über die aufgeheizten Pflastersteine. Der 32-jährige Óscar Gonzáles Betancort kommt falsch auf und stürzt. Die Konkurrenz tippelt um ihn herum. La Plexy ruft ihm zu, das Publikum feuert ihn an aufzustehen. Óscar springt auf und sprintet weiter, mit aufgeschürftem Knie, aber ungebrochenem Kampfgeist. Es ist die Gemeinschaft, die ihn trägt und pusht. Immer weiter, noch einen Schritt und noch einen Schritt.

Óskar Gonzáles Betancort steht nach dem Zieleinlauf als Zweiter auf dem Podest und versorgt anschließend seine Wunden an den Füßen.
Óskar Gonzáles Betancort steht nach dem Zieleinlauf als Zweiter auf dem Podest und versorgt anschließend seine Wunden an den Füßen.

Dieser Lauf am 3. Juli, an dem Óscar in Minirock und hohen Schuhen durch Madrid rennt, hat eine besondere Bedeutung. Denn genau vor 20 Jahren trat die Ley 13/2005 in Kraft. Die Änderung im Bürgerlichen Gesetzbuch, die seitdem gleichgeschlechtliche Ehen ermöglicht. Am 3. Juli 2005 war Spanien mit der Einführung dieses Gesetzes in einer Vorreiterrolle. Nach den Niederlanden und Belgien war es erst der dritte Staat, in dem homosexuelle Paare landesweit die gleiche Möglichkeit bekamen wie heterosexuelle Paare.

Im Vorwort zur Gesetzesänderung lobte der ehemalige König Juan Carlos I die gleichgeschlechtliche Ehe: »Es wird heute ohne Weiteres akzeptiert, dass das Zusammenleben als Paar ein Mittel ist, durch das sich die Persönlichkeit einer großen Zahl von Menschen entwickelt«. Er betonte außerdem die emotionale und wirtschaftliche Unterstützung, die gleichgeschlechtliche Paare einander bieten, und die fortan gesetzliche Anerkennung erhält.

Die Ehe für alle stößt in Spanien heute auf große Zustimmung. Laut aktuellen Umfragen stimmen rund 80 Prozent der Bevölkerung zu, dass das Gesetz eine Errungenschaft für die Gesellschaft ist. Fast 70 Prozent finden, dass es den Schutz für die LGBTI-Gemeinschaft stärkt. Und die Ehe für alle wird angenommen: In den vergangenen 20 Jahren haben sich in Spanien mehr als 75 500 homosexuelle Paare das Ja-Wort gegeben.

Chueca ist das Stadtviertel in Madrid, das von der LGBTI-Gemeinschaft geprägt ist. Das Metroschild ist eine Regenbogenflagge, es gibt einen Stand, an dem man Waffeln in Penis- und Vulvaform genießen kann und zahlreiche Sexshops. In Designerläden und hippen Cafés tummeln sich Einheimische und Leute, die zu Besuch sind. In der Markthalle San Antón treffen Geschäftsleute auf Familien, Seniorinnen und Senioren, die ihre Einkäufe erledigen. Chueca ist ein Ort für alle, und das diverse Publikum des Stöckelschuh-Wettrennens spiegelt das wider.

Als Óscar vor La Plexy ankommt, geht es um alles. Um zu gewinnen, muss er sich noch umziehen. Eine Perücke, ein Kleid und eine Handtasche hat er während des Laufs eingesammelt. Schweißgebadet zwängt er sich in den Polyesterfummel und besteigt das Podest – zu spät. Ein anderer Teilnehmer war schneller. Dennoch gibt sich Óscar »erhaben und fabulös«, wie es von den Gewinnerinnen erwartet wird. Mit dem Sieger und der Drittplatzierten schnauft und strahlt er auf der Bühne, bevor er sich hinsetzt und die Aufmerksamkeit auf seine blutenden Füße in den zerstörten Schuhen lenkt.

Óscar ist auf Lanzarote groß geworden. Damals habe er sich versteckt, wie er sagt. Er hatte Angst. Angst davor, stigmatisiert zu werden, Angst davor, Freunde zu verlieren. Deshalb erlaubte er sich nicht zu sein, wer er sein wollte, und versteckte, wer er ist. Erst als er mit 18 Jahren für ein Ingenieurstudium aufs Festland zog, outet sich der heute 32-Jährige. »Als ich Valencia betreten habe, habe ich mir gesagt: Das ist mein neues Leben, und ich werde mein neues Leben nicht damit beginnen, mich zu verstecken.« Diese Erfahrung hat Óscar geprägt, und er versucht heute, allen zu helfen, die sich in einer ähnlich unsicheren Lage befinden, wie er einst. Eine wichtige Botschaft ist für ihn, dass man die Leute ziehen lassen muss, die nicht hinter einem stehen. Sie seien es nicht wert, dass man sich für sie unterdrückt. »Erst, wenn man sich sicher fühlt, kann man sein Leben leben«, sagt er. Und das tut er nun.

Schon zweimal zuvor hat er am Stöckelschuh-Wettrennen teilgenommen, 2017 sogar gewonnen. Dann ist er auf die Kanaren zurückgekehrt, wo er zunächst Direktor des Flughafens von Teneriffa war und heute auf Gran Canaria arbeitet. Er liebt den Carnaval de Canarias, und er liebt die Madrid Pride. Er freut sich, das diesjährige Rennen mit seiner Reise zu einer Hochzeit in Nordspanien verbinden zu können, befürchtete aber, es zu verpassen, weil sein Flug Verspätung hatte. Direkt vom Flughafen sei er hergekommen, erzählt er. »Das Ambiente hier ist großartig. Die Menschen strahlen pure Liebe aus. Man fühlt sich frei, man fühlt sich unterstützt. Es ist so ein großartiges Gefühl. Ich empfehle allen, mal zu kommen und das Wettrennen mitzumachen.«

Diese Erfahrung von Gemeinschaft und Akzeptanz teilt auch Nicole, die neben ihm als Dritte auf dem Podium steht. Die gebürtige Venezolanerin hat mit 22 Jahren ihr Heimatland aus politischen Gründen verlassen und lebt seither in Madrid. Die 33-Jährige ist gelernte Journalistin, aber hat sich in Spanien bisher mit anderen Jobs über Wasser gehalten, unter anderem in der Gastronomie. Aktuell ist sie arbeitslos, was sie allerdings an diesem glorreichen Donnerstag nicht zu besorgen scheint: »Ich lebe sehr gut. Ich weiß, dass ich eines Tages in dem Bereich arbeiten werde, in dem ich eine Ausbildung habe, und den ich liebe – so wie ich bin.«

Als Transfrau macht sie bei allem mit, was Sichtbarkeit bringt. »Die Pride ist nicht nur ein Fest. Sie ist dafür da zu zeigen, was wir wert sind und dass wir alle einen Platz auf dieser Welt haben.« Aus demselben Grund findet sie auch die gleichgeschlechtliche Ehe wichtig. »Wir alle lieben, nicht nur die Heterosexuellen.« Obwohl es vergleichsweise große Errungenschaften in Spanien gibt, sieht sie auch hier weiterhin Probleme. Vor allem als Transfrau: »Viele sehen uns Transfrauen als Monster, aber wir sind keine Monster, wir sind menschliche Wesen, die frei sein wollen.« Sie fühlt sich herausgefordert, den frustrierten Menschen zu trotzen. Das erfüllt sie auch mit Stolz, und der hilft ihr, weiterzumachen.

Während Nicole ihre Kämpfe als Transfrau beschreibt, beobachten Alex und Francisco das Geschehen vom Straßenrand aus. Auch sie haben ihre eigenen Erfahrungen mit gesellschaftlicher Akzeptanz gemacht. Die beiden leben in Madrid und Berlin und freuen sich darüber, dass sie dieses Pride-Wochenende mit ihren Freunden hier in Spanien feiern können. Vor allem auch, weil sie eine negative Entwicklung in Deutschland beobachten: »Mit der neuen Regierung geht Deutschland einen Schritt zurück. Das sieht man daran, dass jetzt die Regenbogenflagge nicht mehr am Reichstag gehisst wird, was wirklich, wirklich schlimm ist«, sagt Alex. Der 51-Jährige macht sich Sorgen, dass Errungenschaften der vergangenen Jahre verloren gehen. »Wir sind immer am Kämpfen«, schaltet sich sein Freund Francisco ein: »Mal wird es besser, mal schlechter. Wir versuchen, damit umzugehen und weiterzumachen.«

Heiraten ist für die beiden vor allem eine rationale Abwägung: »Ich denke, dass die Ehe für eine Beziehung nicht notwendig ist. Aber dafür, sich einander mehr Rechte zu geben, ist sie schon gut«, sagt Alex. Er sieht die Ehe kritisch, weil sie in Verbindung mit Religion und heterosexuellen Menschen steht. »Aber sie gibt dem Partner mehr Sicherheit, und für das ist sie gut.« Über den Abwägungen steht für den 31-jährigen Francisco aber der Aspekt, dass sie die Entscheidung, ob sie heiraten wollen oder nicht, selbst treffen können und sie ihnen nicht von anderen weggenommen wird.

Lautes Knallen schallt durch die Straße, als die sich langsam zerstreuenden Zuschauenden des Wettrennens ihre bunten Fächer im gleichen Takt auf- und zuklappen lassen. Alex lacht auf, Francisco macht mit. Nicht mitmachen würde er beim Stöckelschuh-Wettrennen, wie er sagt. Zu schmerzhaft ist seine Erinnerung an 16 qualvolle Stunden in einem Berliner Club, als er welche trug. Er lacht über diese Erfahrung: »Not for me!«

»Erst, wenn man sich sicher fühlt, kann man sein Leben leben.«

Óscar Gonzáles Betancort
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