Historisches Votum oder Ausverkauf?

Nach Senatsplazet werfen Kritiker der US-Gesundheitsreform ungenügende Regulierung vor

  • Max Böhnel, New York
  • Lesedauer: 4 Min.
Am Heiligabend kam USA-Präsident Barack Obama der Gesundheitsreform einen entscheidenden Schritt näher. Doch was er »historisches Votum« nannte, stößt bei Linken innerhalb und außerhalb der Demokraten-Partei auf Skepsis oder Ablehnung.

Noch in dieser Woche treffen sich in Washington Vertreter des Vermittlungsausschusses von Repräsentantenhaus und Senat, um die Reformentwürfe beider Kammern zu vergleichen und einen Kompromiss auszuhandeln. Ende Januar soll das über 2000 Seiten fassende Paragrafenwerk der Gesundheitsreform Obama zur Unterschrift vorgelegt werden.

Der Präsident nannte den Senatsentwurf, der am frühen Morgen des 24. Dezember von 60 Senatoren bejaht und von 39 abgelehnt worden war, »das wichtigste Stück Sozialgesetzgebung seit der Rentenreform in den 30er Jahren«. Mit ihm werde ein fast »jahrhundertlanger Kampf« beendet. Obama hatte seinen Weihnachtsurlaub auf Hawaii verschoben, um in Washington in die Debatte eingreifen zu können.

Das Votum, mit dem der Präsident schließlich erleichtert in die Weihnachtsfeiertage ging, entsprach exakt der Mehrheit in der Kammer: 58 demokratische und zwei unabhängige gegen 40 oppositionelle republikanische Senatoren. Im November hatte das Repräsentantenhaus für eine ähnliche Reform gestimmt.

Die Reform sieht für mehr als die Hälfte der rund 50 Millionen in den USA lebenden Menschen, die sich keinen Krankenversicherungsschutz leisten können, eine Versicherungspflicht vor. Etwa 30 Millionen US-Amerikaner soll sie erfassen – nicht aber »illegale Einwanderer«. Wer US-amerikanischer Staatsbürger ist oder eine Greencard hat und sich eine teure Krankenversicherungspolice bisher nicht leisten konnte, soll teilweise unterstützt werden und Beihilfen erhalten. Darüber hinaus erfolgt eine vorsichtige Regulierung der Versicherungsunternehmen. Sie dürfen keinem Patienten die Kostenübernahme oder Mitgliedschaft aufgrund bestehender Krankheiten verweigern. Gänzlich fallen gelassen wurde die »public option«, eine von Linken und Liberalen unterstützte staatliche Krankenversicherung, die mit den privaten Firmen konkurriert und zur Kostendämpfung beigetragen hätte.

Rund 900 Milliarden Dollar soll die Reform in den kommenden zehn Jahren kosten. Obama und die Demokraten argumentieren, auf lange Sicht würden Kosten gespart. Die Republikaner halten dagegen, der Staat mische sich zu sehr in die »Privatangelegenheiten« der Bürger ein und treibe das Land noch mehr in die Verschuldung. Doch das Gespenst des totalitären Staates, das sie im Sommer auf zahlreichen tumultösen Veranstaltungen an die Wand malten, hat seinen Schrecken verloren, seit die »public option« von konservativen Demokraten beerdigt wurde. Befürworter einer allgemeinen Krankenversicherung nach westeuropäischem oder kanadischem Vorbild waren schon im Frühsommer vom Weißen Haus als »Träumer« ausgeschaltet worden.

Eben dieses Spektrum, das eine Universalversicherung oder wenigstens eine stärkere Regulierung der Versicherungskonzerne gefordert hatte, ist von der Realpolitik der Demokraten und des Weißen Hauses schwer enttäuscht. Der prominenteste linke Kritiker beider existierenden Entwürfe ist der ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Vermont und Präsidentschaftskandidat Howard Dean. Er rief öffentlich dazu auf, das Gefeilsche um das Gesetzeswerk aufzugeben, es handle sich um nichts anderes als einen »Ausverkauf«. Billy Wharton, der Herausgeber der Zeitschrift »Socialist«, nannte das Senatsvotum einen »Weihnachtsalbtraum«.

Betont wird jeweils zu Recht, dass die Gesundheitsreform in den kommenden Jahren den privaten Versicherern rund 450 Milliarden Dollar an Steuergeldern in den Rachen schiebt. Außerdem ist diese Reform keine Garantie für eine Qualitätsversicherung. Schätzungen gehen bisher davon aus, dass die Kostendeckung bei den meisten neu Versicherten nur um 60 Prozent betragen wird. Schließlich ergibt sich die Frage nach dem Gesundheitszustand der rund 20 Millionen Menschen, die unversichert bleiben werden. Die meisten linken und linksliberalen Experten wiesen bei aller Skepsis aber auch auf die politischen Kräfteverhältnisse hin. Ein williger Präsident und zwei von Demokraten beherrschte Kammern – diese Konstellation könne sich schon bei den nächsten Wahlen ändern. Es gelte, jetzt gesetzgeberische Pflöcke einzuschlagen und mit Hilfe einer Reformbewegung von außen später nachzubessern.

Obwohl die privaten Versicherer das Gesundheitssystem weiter dominieren, ergeben sich mit der Reform für Zehntausende von armen Familien substanzielle Verbesserungen. Für eine vierköpfige Familie mit einem Jahreseinkommen von 36 000 Dollar werden die Versicherungskosten pro Jahr beispielsweise rund 7000 Dollar betragen. Bisher müssen Mitglieder derselben Familie entweder für die Kosten beim Arzt oder im Krankenhaus selbst aufkommen – oder sie begeben sich eben nicht in Behandlung, weil eine Krankenversicherung zwei Drittel des Jahreseinkommens verschlingen würde.

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