Dem Sausen der Zeit ein Beinchen stellen

Breathless – Dominance of the Moment von Komers, Gogola, Peters & Theiler, Lazarescu

  • Alexandra Exter
  • Lesedauer: 4 Min.

Jan Peters dreht mit Amateurfilmkameras und immer mit sich selbst im Mittelpunkt. Rainer Komers filmt Orte und die Menschen darin und lässt die Bilder kommentarlos für sich sprechen. Jan Gogola gewann vor zehn Jahren Preise für einen Film, der das Tagebuch einer tschechischen Vorstadtgroßmutter illustrierte, und hat nun einen weiteren gedreht, über das Tagebuch ihrer Schwiegertochter. Anca Miruna Lazarescu hat sich mit Filmen über die halbgeschriebene Zukunft von Kindern in besonderen Lebensumständen einen Namen gemacht. Alle arbeiten sie (vorwiegend) dokumentarisch, und aller Filme sind kurz.

»Breathless – Herrschaft des Augenblicks« führt die vier Autorenfilmer (plus Marie-Catherine Theiler, Peters’ Lebensgefährtin, die mit ihm Ko-Regie führte) mit vier Werken in einer Kurzfilmkompilation zusammen, die die Zeit zum Thema hat, die Zeit und ihre Nutzung, ihr Verrinnen, ihre Folgen und ihre Relativität. Ein angekündigter fünfter Beitrag, der experimentelle tschechische Kurzfilm »The Phantom of Liberty II« von Karel Zalud, ist für die DVD-Ausgabe der Sammlung angekündigt. Angestoßen wurde das Projekt von der Filmsparte von Zipp – deutsch-tschechische Kulturprojekte, einer Initiative der Kulturstiftung des Bundes, in Zusammenarbeit mit dem Dokumentarfilmfest Leipzig und dem Dokumentarfilminstitut in Prag.

Mal rennt die Zeit, mal bleibt sie stehn. Jedenfalls scheinbar. Während Jan Peters und Freundin nach einem glimpflich verlaufenen Autounfall zur Besinnung kommen und beschließen, in den Monaten bis zur Geburt des gemeinsamen Kindes endlich zu lernen, wie man Zeit nicht mehr vergeudet oder mit unsinnigen Aufgabenlisten bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, sind es in der ehemaligen Bergbaustadt Milltown, Montana in Rainer Komers’ gleichnamigem Halbstünder gleich die Zeitläufte, die dem Ort eine Ruhepause verordnen. Weil die Minen zu einer Verschmutzung mit krebserregenden Umweltgiften führten, die zu den höchsten in den USA gehörte, ist mit Bergbau in Milltown erst mal Schluss. Von industrieller Beschleunigung des Lebensrhythmus ist dort nicht mehr viel zu spüren.

Es gibt kaum eine Gegend der Welt, in der Komers nicht gedreht hätte, unter eigener Regie oder als Kameramann Dritter. Das Interesse am Tempowechsel in Milltown erklärt sich biografisch: Geboren wurde Komers in Guben, aufgewachsen ist er in Mülheim an der Ruhr, wo das Leben nach dem Ende der Zechen auch neu definiert werden musste – eine Parallele, die wohl erklärt, wie Komers mit »Milltown, Montana« den Blicke Preis 2009 gewinnen konnte, der an einen Film mit Regionalbezug zum Ruhrgebiet vergeben wird. Seine Bilder von aufgelassenen Minen und Sägemühlen, von Menschen am Sauerstoffschlauch und verseuchten Flusslandschaften, von Häftlingsarbeit in der Strafvollzugsanstalt und den rohen Methoden der Cowboys, für die Montana dank eines pferdeflüsternden Robert Redford immer noch berühmt ist, stehen in krassem Gegensatz zu der Schönheit der sichtbaren Landschaft.

Nun wirklich gar nicht mehr im Sauseschritt bewegt sich die Zeit in Halberstadt, das den Ort der Handlung abgibt für »Es wird einmal gewesen sein« von Anca Miruna Lazarescu. Seit dem Jahr 2001 und noch für weitere 639 Jahre wird dort in der ehemaligen Klosterkirche St. Burchhardi ein Stück auf einer eigens eingebauten Orgel aufgeführt, das in einer weniger zerdehnten Aufführung nur ein paar Minuten dauern würde. Aber das Dehnen der Zeit ist Teil des Programms, und den trägt dieses Musikstück schon im Titel: »Organ2/ASLSP«, so langsam wie möglich zu spielen. Die an sich willkürliche Spieldauer von 639 Jahren ergab sich aus dem Alter der ersten im Halberstädter Dom installierten Großorgel von 1361 im Jahr des geplanten Beginns der Aufführung. Die verzögerte sich am Ende um ein Jahr, ohne dass man die Gesamtdauer des Projekts angepasst hätte – noch so ein Beweis für die Relativität von Zeit.

Keiner der heute Beteiligten wird auch nur einen Bruchteil des Gesamtkonzerts erleben. Wer trotzdem in die Zukunft investieren und die Vollendung des Konzerts zumindest finanziell sicherstellen möchte, kann sich per Spende eine Jahresplakette kaufen, die an der Kirchenwand montiert wird. Die Bandbreite der darauf verewigten Sprüche reicht vom schlichten Namen und Geburtsdatum des Sponsoren über den gelegentlichen lateinischen Sinnspruch bis zu Che-Guevara-Zitaten (»Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche« für das 28. Jahr des Projekts) oder der unverfrorenen Werbung mit dem eigenen Firmenlogo. Der Filmtitel entstammt der Plakette für das Jahr 2017. (Für Interessenten: das erste noch verfügbare Jahr ist 2076.)

Eine trutzige Klosterkirche aus dem 12. Jahrhundert, dem Bombardement durch die Alliierten entgangen, das die historische Innenstadt von Halberstadt zerstörte, als Austragungsort einer symbolträchtigen Unternehmung – der amerikanische Avantgarde-Künstler John Cage, von dem das bei seiner Uraufführung 1989 gerade mal halbstündige Musikstück stammt, hätte wohl seine Freude daran gehabt.

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