In den dunklen Keller des Geistes

Edvard Munch und das Unheimliche im Leopold Museum in Wien

  • Gert Claußnitzer
  • Lesedauer: 5 Min.
Alfred Kubin: Das Grausen, um 1901/02, 32,5 x 31,1 cm Leopold Museum, Wien; © Eberhard Spangenberg/VBK
Alfred Kubin: Das Grausen, um 1901/02, 32,5 x 31,1 cm Leopold Museum, Wien; © Eberhard Spangenberg/VBK

Die Bedeutung des Malers und Grafikers Edvard Munch für die europäische Kunst der Moderne ist unbestritten. Der Norweger hat ähnlich wie Vincent van Gogh, beide übrigens im deutschsprachigen Raum früh entdeckt, modernen Gestaltungen in der Kunst den Weg bereitet. Auf der legendären Sonderbundausstellung 1912 in Köln war ihm neben Cézanne, van Gogh, Gauguin ein entsprechender Platz eingeräumt worden. Seitdem sind Jahrzehnte vergangen, aber der Ruhm, den seine »elementaren Seelenstimmungen« hervorriefen, ist trotz einer erheblichen Zeitdistanz nicht verblasst.

Worauf beruht wohl die Aktualität Munchs, dass wir uns immer wieder aufs Neue von seiner Kunst gefangen nehmen lassen? Dass wir förmlich betroffen sind von seinen Bildmotiven, den manchmal geradezu ins Mystische reichenden Darstellungen? Sicher sind es nicht allein die Motive, die nach wie vor unser Interesse erregen, es ist auch die Formgebung, das technische Vermögen dieses Malers und Grafikers, der so nachhaltig die Moderne befruchtet hat.

Eine Ausstellung im Wiener Leopold-Museum befasst sich jetzt mit den intensiven Gefühlsinhalten der Kunst Edvard Munchs und wendet sich zugleich in einer Übersichtsdarstellung Werken des Unheimlichen zu, die in einer europäischen Kunst als Phänomen in Erscheinung treten, mit Vorläufern im 18. und 19. Jahrhundert, mit Vertretern des Symbolismus bis hin zum Expressionismus. Was sich da um die sehr geschlossen wirkende Abteilung der Werke Munchs in virtuoser Vielfalt entfaltet und streng nach ikonografischen Prinzipien die Ausdrucksmittel Munchs wie ein Rahmenthema umspielt, Motive der Hoffnungslosigkeit und Erniedrigung, die dunklen, üblen Themen der Nacht, der Angst und des Wahnsinns, die bewusste und unbewusste Symbolik der Bilder voller dramatischer Unruhe – C.G. Jung sprach von archetypischen Bildern einer ursprünglichen und elementaren Macht –, sind immer wiederkehrende Formulierungen dieser Ausstellung. Das Feld ist natürlich schier uferlos, und nur einzelne »Reflexe« verdeutlichen hier den Zusammenhang mit der »gespenstigen Welt« Edvard Munchs, jenes Ungewisse und Unheimliche als Gegenkraft zum irdisch Realen.

Von überragender Eindringlichkeit wird man hier das Werk von James Ensor erfahren im Kontext zu Munch. Die »Symbole des Unterbewussten«, wie man den Ausstellungsabschnitt überschrieben hat! Wir blicken auf Karnevalsszenen, auf eine »Moderne Walpurgisnacht« und immer wieder auf Masken, hinter denen sich die Dämonen verbergen, die Ensor stets quälten. Bilder des Erschreckens und demaskierende Gestaltungen an der Grenze des Möglichen! Dann auch Werke von Alfred Kubin. Das eindrucksvolle Aquarell »Wassermann und Nixe« zum Beispiel und eine Reihe von Zeichnungen, die eine allegorische Scheinwelt voller Depressionen veranschaulichen, albtraumhafte Vorstellungen mit ungeheuerlichen Sümpfen und Wasserleichen.

Wenn es um »Träume und Albträume« geht, so ist ein weiterer Komplex betitelt, kann man nicht auf Francisco de Goya verzichten, wobei man sich freilich noch weiter zurück begibt. Doch es sind die verborgenen Wahrheiten, die hier erstmals in der Kunst mit solcher Deutlichkeit und hemmungslos in den »Capriccios«, in den »Disperatos« aufgedeckt werden. Von den »Gefahren der Wahrheit« wurde angesichts dieser Darstellungen gesprochen. »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«, so der Titel eines Blattes. Es sind zeitlose Bilder, und sie sind aktuell wie eh und je. Gespenster der Seele sind den Gespenstern der Gesellschaft gleichgesetzt. Wir blicken tief ins Innere der menschlichen Natur, wie späterhin eben bei Edvard Munch und all jenen, die er befruchtet hat.

Und fast möchte man sagen, was sind dagegen die »Schauergeschichten, Märchen und Sagen« mit jenen »Geistern der Nacht«, die wir bei Arnold Böcklin oder Franz von Stuck finden? Alfred Kubin ist in fast allen Abschnitten der Ausstellung gegenwärtig, auch James Ensor, auch da, eine geheime Verwandtschaft zu Munch: der Künstler ein Magier, doppelbödig das Ganze, Maskenbilder in einem Dämmerzustand. Handelt es sich um Psychosen der Gesellschaft? Odilon Redon gar stellt in seinem Symbolismus die Logik des Sichtbaren in den Dienst des Unsichtbaren.

Von einer »Kunst der Krankheit und des Deliriums« sollte der Schriftsteller Huysmans sprechen. Und da denken wir wieder an die starke Wirkung, die Munch auf die Kunst der Moderne gerade in Österreich hat, an Egon Schiele beispielsweise, seinen »Selbstseher (Tod und Mann)« oder die »Tote Stadt«. Der Hauch des Todes weht hier und Todessehnsucht keimt auf. Womit wir wieder bei Munch sind. Der Mensch bei ihm ist geistig und seelisch gefährdet. »In der Hölle« nannte er sein Selbstbildnis von 1895. Ein ganz außerordentliches Werk! Im Zwielicht von Kierkegaard und Strindberg hat man es gesehen. Der nackte Mensch vor den phosphoreszierenden Flammen der Hölle, die ihn zu ersticken drohen. Ist es der »Abglanz einer inneren Hölle«, wie geschrieben wurde?

Die relativ große Kollektion aus dem Munch-Museum in Oslo, die uns erfreulicherweise auch mit einigen bislang hier nicht bekannten Werken Munchs vertraut macht, offenbart sehr eindringlich, was wir bei ihm unter dem »Unheimlichen« zu verstehen haben. Der »Aristokrat der Seele«, so nannte ihn einmal der polnische Schriftsteller Przybyszewski, durchlitt Seelenqualen bis ans Ende seiner Tage. Und aus dem Unterbewusstsein, aus »den dunklen Kellern des Geistes«, stiegen ständig Warnungen herauf. Sie waren wohl die Quelle seiner Kreativität. Alles, was er malte, war Ausdruck seines seelischen Erlebens: »Das kranke Kind«, »Der Schrei«, »Der Vampir«, »Melancholie«, »Eifersucht«, »Asche«. Sein »Lebensfries«, an den er ständig zurückkehrte, prozesshaft und in einem Wiederholungszwang, fand eigentlich nie einen richtigen Abschluss. Es ist eine Kunst entstanden, die auf Erinnerung basiert. Immer wieder wurden unterdrückte Gefühle des Unheimlichen aus dem Unterbewusstsein hervorgeholt und ständig wieder neu bearbeitet.

»Edvard Munch und das Unheimliche«, Leopold Museum Wien, bis 18. Januar. Katalog.

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