»Dschungelfrau« will nicht zurück

Kambodschanische Frau hatte zwei Jahrzehnte in der Wildnis von Ratanakkiri gelebt

  • Daniel Kestenholz, Bangkok
  • Lesedauer: 3 Min.

Drei Jahre dauerte die »Zähmung« seiner Tochter Rochom P’ngieng: Ein Bauer im nordöstlichen Kambodscha hatte sie im Januar 2007 gefangen, als sie Futter stehlen wollte. Futter, weil Rochom wie ein Tier anmutete – ein »Menschenaffe«, sagte der Bauer später, scheu wie ein Reh, das tierähnliche Grunzer von sich gab und huschte statt aufrecht zu gehen.

Das Fabelwesen erwies sich als nackte, schmutzige, völlig abgezehrte Frau, die zwei Jahrzehnte im Dschungel von Ratanakkiri gelebt und nichts als Wurzeln und Beeren gegessen hatte. Tagsüber schlief sie, nachts war sie hellwach. Hatte sie Hunger, rieb sie sich den Bauch.

Ihr Vater, der Dorfpolizist Sal Lou, erkannte sie an einer Narbe und ihren Gesichtszügen wieder. Jetzt sind es drei Jahre her, seit er und seine Frau ihre seit 1989 verschollene Tochter wieder in die Arme schließen konnten. Schwierige Jahre. Erst hatte sie alles verängstigt, besonders die »riesigen Teleobjektive von Kameras«. Ja Rochom war eine Sensation, die Dutzende von Journalisten ans Ende der Welt brachte.

Die damals 20-jährige »Dschungelfrau« war beim Büffelhüten spurlos verschwunden. Noch Ende 2009, als sie fast drei Jahre zurück in der Zivilisation war, riss sie sich Kleider vom Leib und wollte immer wieder in den Dschungel entwischen. Im Oktober musste sie Vater Sal Lou in ein Hospital bringen. Seit einem Monat hatte sie kein Korn Reis angerührt und fliehen wollen.

Auch das Pflegepersonal war hoffnungslos überfordert mit der schreckhaften Rochom, die sich wie ein gefangenes Tier in dunkle Winkel zurückzog. Arzt Hing Phan Sokunthea, Direktor von Ratanakkiris Provinzhospital, sagte: »Wir mussten sie die ganze Zeit bei der Hand halten. Sonst hätte sie sich die Kleider vom Leib gerissen und wäre davongerannt.«

Der Arzt suchte ein Pflegeheim für Rochom – doch mit Heimen ist das so eine Sache in Kambodscha. Gerade geistig Behinderte werden auch von Angehörigen oftmals nur angekettet, damit sie weniger Ärger bereiten. Für Betreuung, geschweige denn Medizin, fehlt das Geld. Doch Rochom ist keine Irre.

Der spanische Psychologe Hector Rifa, der die »Wolfsfrau« gleich nach ihrem Auftauchen betreute, sagte gegenüber dem ND im Januar 2007: »Nach meiner Einschätzung ist sie nicht geisteskrank.« Sie habe immer »wie auf der Lauer« gewirkt, »neugierig«, und dass sie nicht sprechen konnte, bedeute nicht, dass sie nicht zu kommunizieren versuchte: »Wir können sie einfach nicht verstehen«, so Rifa.

Trotz Pflege rund um die Uhr machte Rochom im Oktober keine Fortschritte im Spital. Vater Sal Lou konnte das Elend seiner Tochter nicht länger mitansehen. Arzt Hing Phan Sokunthea: »Wir wollten sie noch länger beobachten, doch ihr Vater kam und nahm sie mit nach Hause.«

Das, so ein heute überglücklicher Sal Lou, habe den Durchbruch gebracht. Seine Tochter sei heute ein »ganz normales menschliches Wesen«. Sie sage etwas, wenn sie Hunger habe, durstig sei oder schlafen wolle. Sie könne einfache Sätze verstehen und ein paar Worte auf Khmer oder in der Sprache des ethnischen Phnong-Stammes sagen. Es gehe ihr jeden Tag besser. Der Arzt, der Rochom in ein Pflegeheim einweisen wollte, kam Ende Dezember auf Besuch vorbei und musste sagen: »Es geht ihr ok, sie kann jetzt essen wie eine normale Person.« Vater Sal Lou: »Wir haben sogar versucht, sie zurück in den Dschungel zu bringen, doch sie wollte wieder nach Hause kommen. Nichts macht mich glücklicher als zu sehen, dass meine Tochter wie andere Frauen lebt.«

Es ist unklar, ob noch weitere Menschen in den Dschungeln von Ratanakkiri leben, einem der abgeschiedensten und wildesten Gebiete Asiens überhaupt. Noch 2004 tauchten vier Familien eines Bergstammes auf, die 1979 nach dem Sturz der Roten Khmer vor vietnamesischen Soldaten in die Wildnis geflohen waren. Die 34 Nomaden lebten von Wurzeln, Dschungelfrüchten und wilden Tieren. Am Leib trugen sie Blätter und Baumrinde.

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