Zu den Gipfeln des Glücks

Die Dresdner Extrembergsteiger Götz Wiegand und Frank Meutzner über das »faire Duell« mit dem Fels und die Grenzpfade auf dem Weg nach oben

  • Lesedauer: 9 Min.
Die UNO hat 2002 zum »Jahr des Berges« erklärt. Für die Dresdner Götz Wiegand (Jahrgang 1959/ Freier Journalist/ Bergsteiger seit 1984; rechts) und Frank Meutzner (Jahrgang 1965/Bergsportjournalist und Kameramann/Bergsteiger seit 1979; links) ist jedes Jahr ein Jahr des Berges. Seit sie sich 1997 kennen lernten, bilden sie eine Schicksalsgemeinschaft bei Unternehmungen zu den höchsten Gipfeln der Welt, sind Organisation und Durchführung der Expeditionen beider Lebensinhalt. Ihre bisherige Bilanz: Sechs Expeditionen zu Achttausendern, erste deutsche Besteigung des Makalu (8463 Meter) ohne zusätzlichen Sauerstoff; im Februar erfolgte der Aufstieg zum Aconcagua (6959 Meter), dem höchsten Berg Südamerikas. Gemeinsam schrieben sie das Buch »Gipfelträume. Unser Weg zu den Achttausendern«, das vergangenes Jahr im Sportverlag Berlin erschien.
ND: Ihrem gemeinsamen Buch »Gipfelträume« haben Sie ein Zitat von George Mallory vorangestellt. Auf die Frage, warum er auf den Mount Everest wolle, antwortete der britische Bergsteiger Anfang der 20er Jahre, weil dieser Berg da sei. Ist die oft gestellte und wohl nie befriedigend beantwortete Sinnfrage des Bergsteigens für Sie damit geklärt?

Frank Meutzner: Natürlich werde auch ich nach unseren Vorträgen immer wieder gefragt, warum ich eigentlich auf so hohe Berge klettere. Und ich kann diese Frage auch nicht tiefgründiger beantworten als Mallory, geschweige denn rechtfertigen, was offenbar bisweilen bei derart »nutzlosem« Tun erwartet wird.
Götz Wiegand: Mir geht es ähnlich. Als Student unternahm ich meine ersten Klettertouren in Bulgarien, so am Maljowitza im Rila-Gebirge und am Wichren im Pirin. Ich spürte, dass mich dieses Leben einfach faszinierte. Wandern und Klettern bis zur Erschöpfung, den Anblick herrlicher Berglandschaften genießen, schlafen, wo es einem gefällt.

ND: Der Berg als Gipfel des Glücks?

G. W.: Schließlich ist man im wahrsten Sinne des Wortes oft über den Wolken. Auch wenn man weiß Gott nicht schwebt, sondern auf physischen und psychischen Grenzpfaden wandelt.
Hoch hinaufsteigen, um tief in sich hineinblicken zu können, wie Reinhold Messner einmal sagte?
F. M.: Man erreicht einen Gleichklang von Körper und Geist, wie es wohl nirgendwo sonst möglich ist.

ND: Seit Anfang der 90er Jahre organisierten Sie verschiedene sächsische Expeditionen in den Himalaja. Ihr beider Credo ist es, sich im »fairen Duell« mit dem Berg zu messen. Was meinen Sie damit?

F. M.: Je höher der Berg, desto größer die Strapazen wegen des zunehmenden Sauerstoffmangels. Trotzdem verwenden wir weder beim Aufstieg noch beim Abstieg künstlichen Sauerstoff. Lediglich eine kleine Reserve für den medizinischen Notfall haben wir dabei. Zudem verzichten wir spätestens ab dem vorgeschobenen Basislager auf die Hilfe von Hochträgern.
G. W.: Wir wollen damit unsere Achtung vor den Bergen zeigen und vor allem möchten wir den Bewohnern des Himalaja Respekt entgegenbringen.

ND: Auf die Unterstützung der Einheimischen können Ihre Expeditionen aber nicht ganz verzichten?

G. W.: Natürlich nicht. Ich war 1994 auf dem Shisha Pangma, meinem ersten Achttausender, der im tibetischen Teil des Himalaja liegt. Für den Marsch in das 5400 Meter hoch gelegene Basislager nutzten wir damals zum ersten Mal die Hilfe von Tibetern, die uns mit ihren Yaks unterstützten. Jeder der Männer betreute drei dieser zotteligen, genügsamen und eigensinnigen Tiere, auf die unsere Ausrüstung zu verteilen war. Jeder Yakbesitzer wollte seinen Tieren indes nur die leichtesten und bequemsten Gepäckstücke zumuten. Wir hatten dabei nichts zu melden und übten uns in Geduld. Aber siehe, irgendwann marschierten wir dann wirklich los: 27 Yaks, 9 Tibeter und wir Sachsen auf dem Weg ins Basislager.
F. M.: Seit 1997 begleitet Mingmar, ein Sherpa aus einem Dorf der Solo-Khumbu- Region südlich des Mount Everest, unsere Touren. Mingmar arbeitet als Sirdar. Das ist die Bezeichnung für den Chef. Der Sirdar ist die wichtigste Person der Expedition überhaupt. Wichtiger als der Leiter des ganzen Unternehmens. Er organisiert die Expedition vor Ort, das heißt von Kathmandu bis zum Basislager. Ihm obliegen unter anderem die Verhandlungen mit den Behörden, die Anwerbung und Bezahlung der Träger, der Einkauf von Lebensmitteln, und er kümmert sich um den Schutz des Expeditionseigentums.
G. W.: Mingmar kennt sich auch mit den günstigsten Routen an den Bergen aus. Er ist ein fähiger Sirdar, unser guter Geist und ein echter Freund. Teile unserer Ausrüstung lagern in Mingmars Wohnung in Kathmandu. Dafür bezahlen wir ihm und seiner Familie einen Teil der Miete.
Ihre Reisen zu den höchsten Bergen kosten sehr viel Geld. Wie sichern Sie die Finanzierung?
F. M.: Im Laufe der Jahre haben wir gelernt, Sponsoren zu interessieren und zu gewinnen. Unsere letzte Expedition im Frühjahr 2001 zu Pumori und Mount Everest kostete knapp 250000 Mark. Allein für die Besteigungsgebühren, das heißt, für den Kauf der so genannten Permits in Kathmandu brauchten wir fünf Bergsteiger 70000 Dollar. Solche Summen können wir beim besten Willen nicht allein aus unseren privaten Einkommen aufbringen. Die meisten von uns leben in bescheidenen Verhältnissen, weil der finanzielle Aufwand selbst mit Sponsorengeldern für jeden einzelnen Bergsteiger dennoch sehr hoch ist.
G. W.: Das soll aber nicht als Klage verstanden werden. Wir haben uns freiwillig für diese Lebensweise entschieden. Frank und ich leben ja schon seit Jahren nicht mehr den normalen bürgerlichen Alltag. Wir gehen in die Berge und arbeiten nach der Rückkehr an Filmbeiträgen, Fotoausstellungen und unseren Dia-Video-Vorträgen, mit denen wir durch Deutschland reisen. Unseren Text-Bild-Band »Gipfelträume« haben wir mit Hilfe von Thomas Treptow, einem Sportredakteur der Chemnitzer »Freien Presse«, geschrieben und zusammengestellt. Und dann planen wir natürlich neue Expeditionen. Neben dem Wohin betrifft das vor allem das Woher des nötigen Geldes.

ND: Sie waren beide bereits zu DDR-Zeiten Bergsteiger, wo sich Ihr Drang nach Weite und Höhe in Grenzen, vor allem staatlichen, halten musste.

G. W.: Heute ist vor allem das Geld wichtig. Damals war es schon abenteuerlich, überhaupt eine Genehmigung für Reisen in die Hochgebirge osteuropäischer Länder zu erhalten und dahin zu kommen. Denn selbst - oder gerade - Reisen in die Sowjetunion unterlagen starken Beschränkungen. Wir haben da ganz schön getrickst, um die Visa zu kriegen. In den 80er Jahren arbeitete ich im VEB Messelektronik Robotron Dresden. Dort wurden elektronische Geräte für den Export in die Sowjetunion hergestellt. Mir kam damals die Idee, einen Lärmdosimeter in großer Höhe und damit unter extremen klimatischen Bedingungen zu testen. Mit einer bedeutungsschweren politischen und ökonomischen Begründung versehen, wurde der Antrag genehmigt. Es folgten bange Wartezeiten an den Grenzübergängen. Aber mit den unterschriebenen und abgestempelten Dokumenten in einer roten Mappe gelang unsere Mission. Viel Aufregung, um auf den 5642 Meter hohen Elbrus im Kaukasus zu gelangen. In den folgenden Jahren sind wir dank dieses Tricks sogar auf Siebentausender im Pamir und im Tienschan gestiegen.
F. M.: Bergsteigen war in der DDR eine untergeordnete Sportart. Aber es gab über die Bergsteigersektionen in den Sportgemeinschaften finanzielle Unterstützung von staatlichen Stellen und bezahlte Freistellungen von der Arbeit waren auch möglich. Ich habe alle Freiräume genutzt, die ich gesehen habe. Ich reiste mehrmals mit »Jugendtourist« in die Sowjetunion und kam dann dort etwas »vom Weg« ab, um Berge besteigen zu können. Das heißt, ich und meine Freunde meldeten uns krank und zogen los, sobald unsere Reisegruppe ihre Tagesausflüge begonnen hatte. Das alpine Klettern im Kaukasus war einfach herrlich und gab mir das Gefühl, machen zu können, was ich will.
G. W.: Für mich stand damals fest, sobald ich die fünf Siebentausender im Pamir bestiegen habe, beantrage ich den ersten Achttausender im Himalaja. Und bei Nichtgenehmigung wäre ich wohl aus der DDR abgehauen.

ND: Und mit welcher technischen Ausrüstung sind Sie seinerzeit in die Berge gegangen?

F. M.: Am Anfang zogen wir mit Skistöcken los. Eispickel, Steigeisen und Steigklemmen habe ich selbst gebaut. In Augustusburg gab es jemanden, der Daunenjacken nähte. Daunenschlafsäcke und Bergschuhe besorgten wir uns in der CSSR. Bei einer Firma in Jena organisierten wir die Herstellung von Gletscherbrillen. Naja, mit der Zeit lernte man die richtigen Leute kennen.
Stichwort Angst. Sie gehen in die Berge und wissen, es könnte jemand aus Ihrer Expedition sterben, vielleicht sogar Sie selbst. Aber Sie glauben trotzdem, alle werden zurückkommen.
G. W.: Wäre es anders, sollten wir besser daheim bleiben.

ND: Wie funktioniert diese Verdrängung? Schließlich starb Ihr Freund Bernd Mehnert vor zwei Jahren im Himalaja beim Abstieg vom Gipfel des Makalu.

F. M.: Natürlich blenden wir die Gefahren nicht aus. Wenn wir in die Berge gehen, wissen wir, worauf wir uns einlassen. Aber wir gehen auch nicht dorthin, um zu sterben. Das Risiko des Bergtods bleibt. Das ist keine Frage. Aber mit immer größer werdender Erfahrung kann man es auch minimieren.
G. W.: Expeditionen über die 8000-Meter-Grenze hinaus sind immer lebensgefährlich, für jeden. Bernds Tod hat uns bewusst gemacht, dass es nicht nur die anderen trifft. Es war die bislang bitterste Erfahrung meines Bergsteigerlebens. Bernd stürzte beim Abstieg plötzlich in den Schnee. Wir konnten ihn nicht mehr ins Leben zurückholen. Hätten wir ein solches Ende verhindern können? Diese und andere Fragen stelle ich mir immer wieder. Ohne sie beantworten zu können. Vor allem mit dieser Erfahrung betone ich immer wieder, das Hauptziel unserer Expeditionen heißt: Alle kehren gesund zurück.

ND: Das Erreichen des Gipfels sehen Sie nicht als das wichtigste Ziel?

G. W.: Nicht um jeden Preis. Schafft es einer aus unserer Expedition - wie der Chemnitzer Jörg Stingl im vergangenen Frühjahr - auf den Gipfel des Mount Everest, dann ist das nicht nur für ihn persönlich ein Sieg, sondern für die gesamte Expedition. Ganz oben gewesen zu sein wird zum Erfolg durch die gesunde Rückkehr.
F. M.: Fahre ich zum Pumori oder zum Everest wie letztes Jahr, dann träume ich selbstverständlich davon, oben zu stehen. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass mein »innerer Schalter« funktioniert. Er gibt mir das Signal zur rechtzeitigen Umkehr. Denn umzukehren ist am Berg zweifellos schwerer als weiterzugehen. Obwohl man sich krank fühlt oder das Wetter sich rapide verschlechtert. Kurz vor dem Gipfel umzudrehen, kostet eine unglaubliche Überwindung.

ND: Findet auch der Mut für eine solche Entscheidung Anerkennung?

F. M.: Auf jeden Fall bei Leuten, die sich ebenso verhalten oder verhalten würden.
Bei Ihren Dia-Video-Shows sind Besucherzahlen um die tausend - vor allem in Sachsen - keine Seltenheit. Da ist es doch ein Glück für die Natur, dass nicht alle diese Bergfans ins Hochgebirge ziehen.
G. W.: Vielen reicht vermutlich, dass wir ihnen als Extrembergsteiger eine Art Projektionsfläche für ihre Sehnsüchte nach hohen Bergen und Abenteuer bieten. Das kann wirklich nur gut sein.

Interview: Carmen Bossenz
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