Geschichtslektion mit dem Filzstift

Protest gegen Döbelner Denkmal bringt einen Rentner vor Gericht

  • Hendrik Lasch, Döbeln
  • Lesedauer: 7 Min.
Vor dem Lessing-Gymnasium Döbeln wird an Opfer von Unrecht und Willkür erinnert – aus den Jahren 1933 bis 1989. Weil er diese Gleichsetzung von NS-Zeit und DDR nicht hinnehmen wollte, wurde ein Rentner verurteilt.
Erst hat Wilfried Bretschneider mit Plakaten gegen das Denkmal vorm Döbelner Lessing-Gymnasium protestiert. Als ihn niemand erhörte, griff er zum Filzstift – und kam vor Gericht. Fotos: Hendrik Lasch
Erst hat Wilfried Bretschneider mit Plakaten gegen das Denkmal vorm Döbelner Lessing-Gymnasium protestiert. Als ihn niemand erhörte, griff er zum Filzstift – und kam vor Gericht. Fotos: Hendrik Lasch

Es ist ja nicht so, dass Wilfried Bretschneider gleich zur Tatwaffe gegriffen hätte. Zuerst schrieb er nur Briefe, sagt der Rentner: »an Gott und die Welt«, vor allem aber an den Förderverein des Lessing-Gymnasiums im sächsischen Döbeln. Als keine Antwort kam, entwarf er Plakate, um seinem Anliegen Gehör zu verschaffen. Die Texte, mit denen er zum Nachdenken anregen wollte, ließ er aufwendig auf wetterfestes Plastik drucken. Es half nichts: Seine Anklagen verhallten ungehört. Da ging er erstmals auf den Stein des Anstoßes los – indem er dessen Aufschrift mit Kreide ergänzte. Regen oder ein eifriger Hausmeister wischten seine Anmerkungen weg.

Schließlich kam die »Waffe« ins Spiel: ein Filzstift. Mit diesem griff Bretschneider in einen seit Jahren schwelenden geschichtspolitischen Streit in der sächsischen Kleinstadt ein. Er habe sich, heißt es in einem im Januar am örtlichen Amtsgericht gesprochenen Urteil, der »gemeinschädlichen Sachbeschädigung« an einem Denkmal schuldig gemacht.

Ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit

Bretschneider selbst sagt, er habe dessen Aufschrift »korrigiert«. Der 67-Jährige bestreitet nicht, dass er viermal den in rötlichen Sandstein gehauenen Text überschrieb: »Ich habe das ja am helllichten Tag getan.« Dreimal wurde eine Firma gerufen, die seine Kommentare vom Stein rieb. Beim vierten Mal ließ man diese stehen. Dafür wurde ihr Urheber verurteilt.

Bretschneider wirkt nicht wie ein notorischer Störenfried. Wenn er im Wohnzimmer seines Hauses auf einem kleinen Dorf eine halbe Fahrstunde hinter Döbeln seinen Fall beschreibt, erweckt er den Eindruck eines ruhigen, fast sanften Zeitgenossen. Der Fahrzeugschlosser, der früher in einer PGH und einem Autohaus Autos reparierte, bis ein Unfall ihm die Arbeit unmöglich machte und er vorzeitig in die Rente geschickt wurde, ist auch kein politischer Mensch. Mit Parteien habe er wenig im Sinn, sagt er; auch deren Streit um die Deutungshoheit über die jüngere Geschichte verfolgt er kaum.

Dass Bretschneider mitten in einen geschichtspolitischen Streit geriet, verdankt er seinem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Der war verletzt, als er vor sechs Jahren in der Lokalzeitung erstmals von einem Denkmal las, das der Förderverein des Gymnasiums in Döbeln zum 125-jährigen Schuljubiläum im Jahr 1994 hatte aufstellen lassen. »Zum Gedenken an die Lehrer und Schüler, die Opfer von Krieg, Unrecht und Willkür wurden«, lautet die Inschrift der leicht gewölbten Mauer. Darunter stehen zwei Jahreszahlen: 1933 – 1989. Ersteres das Jahr der Machtübernahme der Nationalsozialisten, letzteres das, in dem die DDR unterging. Ein Unterschied zwischen den beiden politischen Perioden ist nicht erkennbar. »Eine Schande« nennt das Bretschneider, der die Zahl 1989 deshalb wiederholt durchstrich und das Wort »heute« einfügte. Er habe, sagt er zur Erklärung, »in dieser Beziehung eine dünne Haut«.

Woher sie rührt, kann Bretschneider kaum erklären. Seine Familie habe »weder in der Nazizeit besonders gelitten, noch wurden wir in der DDR bevorteilt«. Allerdings hat er etliche Bücher über die NS-Jahre und die damals begangenen Verbrechen gelesen. Das industrielle Morden sei auch mit dem ärgsten Unrecht, dessen sich die DDR schuldig gemacht habe, nicht zu vergleichen, sagt der ältere Mann, der einräumt, in dieser Beziehung »nahe am Wasser gebaut« zu sein. Die Empörung über die seiner Ansicht nach völlig ungerechtfertigte Gleichsetzung treibt ihm noch immer die Tränen in die Augen.

So erregt wie Bretschneider hinterlässt das Denkmal am Döbelner Gymnasium wenige; für Anstoß und Ärger sorgt es jedoch von Beginn an. Erste Proteste gab es bereits nach der Einweihung, sagt der Döbelner Manfred Richter: Schüler hätten damals das Wort »Vergangenheitsbewältigung??!!« hinter die Jahreszahlen geschrieben. Auch gab es kritische Beiträge in der Schülerzeitung, die zu einer Diskussionsrunde mit Vereinsmitgliedern führten, erinnert sich Richter, der 1949 an der Schule sein Abitur ablegte und dieser verbunden blieb, im Streit um die Inschrift aber aus dem Förderverein austrat.

Korrekturen hielt man bei dem Verein nicht für notwendig. Die von Kritikern bemängelte »unzulässige Gleichsetzung zweier zeitlich aufeinanderfolgender Diktaturen in deren Machtausübung« sei, heißt es auf der Internetseite des Fördervereins, »nie der Sinn der Denkmalsstifter« gewesen. Diese hätten vielmehr die Schüler und Lehrer »unserer – und nur unserer – Schule« im Sinn gehabt. Vor allem die »Opfer« unter diesen, heißt es ohne nähere Erläuterung, sehe man als »gleichwertig« an. Nachfragen werden derzeit nicht beantwortet. In der Debatte gehe es nur um das Gymnasium, sagte Matthias Müller, Schulleiter und Vizevorsitzender des Fördervereins, auf ND-Anfrage. Deshalb, sagt er, »sollte das Thema lokal begrenzt bleiben«.

Streitthema auch in der Gedenkstättenstiftung

Das ist es nach Ansicht der Kritiker freilich nicht. Manfred Richter beispielsweise verweist auf die harten Auseinandersetzungen um die Erinnerungspolitik gerade in Sachsen. Dort kam es 2004 zu einem bundesweit beachteten Eklat in der Gedenkstättenstiftung: Weil sie im zugrundeliegenden Gesetz keine ausreichende Differenzierung zwischen den NS-Verbrechen und dem Unrecht in der DDR erkennen konnten, traten mehrere Opferverbände aus deren Gremien aus. Nach jahrelangem Tauziehen kehren einige nun in die Stiftung zurück – teils aber unter der Bedingung, dass bald eine Korrektur des Gesetzes erfolgt. Harsche Kritik zog auch immer wieder das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung auf sich, dessen wissenschaftliche Arbeit zum »Diktaturvergleich« von konservativen Kreisen gern zur Delegitimierung der DDR herangezogen wird. Der Streit ist indes nicht auf Sachsen begrenzt. Eine für Ende dieser Woche in der Gedenkstätte »Roter Ochse« in Halle geplante Lehrerfortbildung, bei der es ebenfalls um einen Diktaturvergleich geht, sorgte mit ihrem unausgewogenen Programm für erhebliche Verwerfungen in der Landespolitik Sachsen-Anhalts. Der Döbelner Fall beschäftigte ebenfalls einige NS-Opferverbände, sagt Richter, der im Prozess gegen Bretschneider als sachverständiger Zeuge geladen war und dabei 69 Unterschriften gegen die Inschrift vorlegte.

Wilfried Bretschneider kennt all die Debatten unter Historikern und Politikern nicht. Er hat Briefe geschrieben, Plakate gemalt und schließlich zu Kreide und Stift gegriffen, weil ihm der Text auf dem Denkmal als grobe Falschbehauptung erschien. Strafbar, sagt er, »müsste doch diese Gleichsetzung sein und nicht deren Korrektur«. Die Richterin am Amtsgericht sah das anders. Sie verurteilte ihn zu 50 Tagessätzen von jeweils 20 Euro. Grundlage ist ein vor zwei Jahren eingeführter Straftatbestand, der sonst gegen Grafitti-Sprayer angewendet wird. Juristen halten das Urteil für zu hart und verweisen auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit: In einem »zugespitzen Meinungskampf« seien auch »prononcierte und übertriebene Äußerungen zulässig, wenn jemand nur auf diese Weise Gehör findet«, sagt der Rechtsanwalt und Linksabgeordnete Klaus Bartl.

Das Urteil gegen Bretschneider indes ist rechtskräftig. Aufkommen muss er auch für ein Gutachten, das zu dem Schluss gekommen war, bei ihm lägen keine psychischen Beeinträchtigungen vor, er verfüge jedoch über ein »sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden« sowie »große Sensibilität und Verletzbarkeit«. Alles in allem soll er in dieser Woche 3424,32 Euro an die Justizkasse überweisen, Geld, das der Rentner nicht hat. Womöglich, sagt er, müsse er sein Motorrad verkaufen, eine Yamaha-Maschine, die sein ganzer Stolz ist. Andernfalls muss er die Strafe absitzen. Seiner Frau hat er versprochen, sich »künftig mehr zurückzuhalten«.

Verzicht auf die Jahreszahlen?

Derweil wird im Förderverein erwogen, die Inschrift doch noch zu ändern. Auslöser sind freilich nicht neue geschichtspolitische Einsichten, sondern finanzielle Probleme: Nach den wiederholten und empfindlich teuren Reinigungen ist der Stein unter der Jahreszahl 1989 so angegriffen, dass er ersetzt werden muss. Geschätzte Kosten: 3500 Euro. In einem Rundbrief fragt der Verein nun, ob zum Schutz vor weiteren Beschädigungen der Text am Denkmal geändert werden soll. Bis zum Mai sollen die Mitglieder entscheiden, ob sie von einer Sanierung absehen, den Stein in der bisherigen Form ersetzen oder eine geänderte Zeitleiste eingefügt sehen wollen: »1933-1945 * 1945-1949 * 1949-1989« solle diese lauten. Die vierte vorgeschlagene Variante wäre, auf jegliche Jahreszahl zu verzichten. »Das«, sagt Bretschneider, »wäre vermutlich die beste Idee.«

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