Stadt der Verlorenen

Werner Schroeter inszeniert an der Berliner Volksbühne »Quai West«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
Stadt der Verlorenen

Es gibt Bücher, die sollte man im Liegen lesen. Das Liegen verändert nicht nur das Körpergefühl, auch die Perspektive auf die Welt wird eine andere. Sehr viel passiver, aber auch schutzloser, weniger wehrhaft. Wer aufrecht sitzt, der urteilt anders, viel rationaler, viel kritischer. Ideal wäre also ein harmonischer Wechsel zwischen Sitzen und Liegen. Die Volksbühne jedoch hat in dieser Spielzeit den Zuschauern im Parkett eine Liegekur verordnet. Jeder bekommt eine Art Seesack, den kann er sich dann die nächsten Stunden ständig für seine Liegesitzhaltung zurechtrücken wie ein Schlafloser sein Kopfkissen. Und so beginnt das eigentliche Theater dann oft schon vor der Vorstellung, wenn über Siebzigjährige fassungslos vor ihrem Sitzplatzbündel stehen. Manchmal haben die Bandscheiben den bleibendsten Eindruck.

Man sollte denken, zu einer Inszenierung von Werner Schroeter, diesem dunklen, surreal überreichen Nachtvogel des deutschen Autorenfilms, passe solch eine Liegekur für die Zuschauer. Die Bühne: eine Drehscheibe im ständigen Halbdunkel. Mal steigt sie auf wie ein sehr unbekanntes Flugobjekt, manchmal kippt sie bedenklich nach vorn, als gelte es, endgültig das ptolemäische Weltbild zu stürzen. Schroeter inszeniert hier Bernard-Marie Koltès »Quai West« in der Übersetzung von Heiner Müller.

Zu Heiner Müller passt Liegen nun allerdings gar nicht. Wenn schon Koltès den Text wie einen einzigen Monolog ineinander fließen lässt, so kühlt ihn Müller auch noch aus, baut Klippen ein, an denen man schmerzhaft hängen bleibt. Dem Kommenden sollte man sitzend entgegensehen! Was das ist? Eine Art Untergang, aber das Entscheidende daran bleibt, die Ausweglosigkeit in allen Details auch zu denken, sich das Zu-Ende-Gehen Schritt für Schritt bewusst zu machen. Bis man keinen einzigen Schritt mehr tun kann und in der Falle sitzt. Die Falle, das ist die Stadt im Ausnahmezustand.

Schroeter nimmt mit Koltés die Thematik auf, die er bereits im vergangenen Jahr in seinem grandiosen Film »Diese Nacht« entwickelt hat. Da war das Buch des Uruguayers Juan Carlos Onetti die Vorlage. Wir sahen vergebliche Revolten und ausgelieferte Menschen mitten im Ausnahmezustand, der wie eine Welle über sie hinwegging. Ein Polizeistaat und die große Frage nach dem Warum. Die Antwort führt unweigerlich über die Grenze des Absurden. So nahm Albert Camus in »Die Pest« Oran als Metapher für eine kranke Welt.

Der im thüringischen Georgenthal geborene Werner Schroeter gehört zu den wenigen Regisseuren (wie auch Werner Herzog oder Roman Polanski), die nicht nur wissen, was ein Geheimnis ist, sondern auch, wie man um dieses herum eine Geschichte erzählt. Schroeter drehte einst einen hinreißenden Film über sehr alte und sehr junge Opernsänger. Über die, die erst noch zur Stimme finden müssen und die, die sie schon wieder verloren haben. Er zaubert mit Atmosphären. Angst, Hoffnung, Liebe, Schmerz und Tod – allgemeiner und zugleich präziser als er kann man menschliche Existenz kaum ins Bild setzen.

Und nun arbeitet dieser schwer erkrankte Regisseur von Weltformat an der Berliner Volksbühne, die nicht unbedingt als Hüter schwebender Zustände, schon gar nicht als Hort kunstvoll zelebrierter Geheimnisse bekannt ist. Im vergangenen Jahr hatte er hier bereits in einem mutigen Doppelprojekt »Antigone« und »Elektra« für die Agora, die Freiluftbühne vor der Volksbühne inszeniert. Ein gelungenes Experiment, das ihn wohl dazu verführt haben mag, nun den schweren, wortmagischen Koltés-Müller-Brocken auf die selbst entworfene Bühnenscheibe zu rollen.

Da liegt er dann bleischwer – und bleibt so auch den ganzen Abend über liegen. Der Text beginnt nicht zu leben, bleibt ebenso lieblos wie unintelligent aufgesagt ganz und gar tot. Wie konnte das geschehen? Gewiss lag es auch daran, dass dieser so opulent in Bildern zu schwelgende Regisseur in seinen Theaterarbeiten ein strenger Purist ist, der auf jedes Ornament, jede Erklärung, jede Andeutung von Handlung konsequent verzichtet. Alles lastet auf dem Schauspieler und den Worten. Für »Antigone/ Elektra« hatte Schroeter sich zwei außerordentliche junge Schauspielerinnen mitgebracht: Anne Ratte-Polle und Dörte Lyssewski. In »Quai West« arbeitet er mit dem Volksbühnen-Ensemble. Und das ist auf eine derartige Herausforderung, mit minimalistischem Spiel ein Maximum an Textdeutung zu erreichen, äußerst schlecht vorbereitet.

Passabel schlagen sich immerhin Sebastian König und die quirlig-ausdrucksstarke Maria Kwiatkowsky. Zumindest stimmt ihr Einsatz, der Versuch aus der so nervend-lähmenden Routine dieses Ensembles auszubrechen, dessen Misere eine in jeder Geste, mit jedem Wort falsch liegende Silvia Rieger verkörpert. Schade um diese an sich tief lotende philosophische Parabel über Menschen, die immer darauf warten aufzubrechen und immer ist da etwas, das sie entscheidend daran hindert.

Das letzte Schiff ist abgefahren, der Hafen liegt dunkel. Am Ende tropft der Beifall wie ein kaputter Wasserhahn.

Nächste Vorstellung: 4. April

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