Wundmale des Holocaust

Nelly Sachs: Ausstellung und Werkausgabe

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Im Frühjahr 1960 der »Sprung ins Ungewisse«, ein Wagnis, das so lange undenkbar war. Nach zwanzig Jahren sieht Nelly Sachs zum ersten Mal wieder Deutschland. Seit sie den Nazis 1940 in allerletzter Minute entkam, hat sie das Land nicht wieder betreten, und sie hätte auch jetzt die schützende Stadt Stockholm nicht verlassen, wenn ihr nicht diese unverhoffte Ehrung zugefallen wäre. Meersburg hat ihr den Droste-Preis zuerkannt, eine Auszeichnung für herausragende Dichterinnen. Trotzdem fährt sie nicht geradewegs dahin.

Vorsichtshalber nimmt sie Quartier in Zürich und kommt dann zur Feierstunde mit dem Schiff über den Bodensee. Und ist gleich überwältigt. Meersburg hat ihr zu Ehren geflaggt, sie wird stürmisch begrüßt, auch Ingeborg Bachmann und Max Frisch sind gekommen, es war wie im Märchen, notiert sie und spricht bewegt von »herrlichster Harmonie«. »Wie soll ich das nur fassen, alles nach so viel Dunkelheit«, heißt es in einem Brief.

Nelly Sachs ist da noch immer eine ziemlich unbekannte Poetin. Zwar gibt es mittlerweile vier Gedichtbände von ihr, der erste 1947 im Aufbau-Verlag (»In den Wohnungen des Todes«), aber ihre Bücher irren, wie sie lakonisch mitteilt, »bis jetzt als Waisen umher«. Die Sammlung »Sternverdunkelung«, 1949 bei Bermann Fischer erschienen, hat sich gar als unverkäuflich erwiesen. Ein Teil der Auflage (vermutlich sogar der größere Teil) ist daraufhin eingestampft worden. Noch 1967, da ist Nelly Sachs schon Nobelpreisträgerin, soll ein Rezitationsabend in Stockholm ohne Besucher geblieben sein.

Weiß man heute besser, wer diese Frau war? Sie selber hat nie mehr von sich offenbart als nötig. Wenn sie es nicht ganz vermeiden konnte, über sich zu sprechen, beließ sie es bei Andeutungen, vagen Formulierungen, Auskünften, die sich geschickt im Ungefähren verloren. Sie sprach von tragischen Ereignissen in ihrem Leben, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren. »Wir jüdischen Menschen«, erklärte sie nur, »müssen so zurückhaltend wie möglich sein.«

Gelten sollten allein ihre Texte, die Gedichte, nichts anderes. »Du wirst«, schrieb sie 1959 an den Germanisten Walter A. Berendsohn, ihren frühen Entdecker in Stockholm, »meine wiederholt ausgesprochene Bitte verstanden haben, daß ich hinter meinem Werk verschwinden will, daß ich anonym bleiben will …« Dabei blieb es bis zum Schluss, und so kam es, dass alle Details ihres Daseins, die wir kennen, aus den mehr als viertausend Briefen, die Nelly Sachs hinterlassen hat, aus marginalen Bemerkungen, aus Notizen und den von Berendsohn akribisch protokollierten Gesprächen mühsam zusammengetragen werden mussten.

Jetzt, vierzig Jahre nach ihrem Tod, kann man sich im Jüdischen Museum Berlin ein Bild von dieser Dichterin machen. In der Mitte der Schau, in einem Rundbau, hat man aufgestellt, was sich einst in der winzigen, 1950 nach dem Tod der Mutter eingerichteten Ecke ihrer Einzimmerwohnung befand. Da ist der Tisch mit der Schreibmaschine darauf, Marke Mercedes, die Lampe, eine sehr schmale Liege, das Telefon, ein Hocker, die kleine Gesteinssammlung. Hier, in ihrer engen, nur vier Quadratmeter großen »Kajüte«, hat Nelly Sachs gegessen, geschlafen, geschrieben, sehr einsam inzwischen, im Herzen die Trauer um die verlorene Mutter, im Gespräch nur noch mit wenigen Freunden, Menschen, die ihr Halt und ein bisschen Lebensmut gaben.

Die Schatten der Vergangenheit, in ihrer Dichtung immer wieder beschworen, voller Pathos manchmal und voll dunkler Schwere, wollten so wenig weichen wie die Albträume, die sie quälten. Das Morden war vorbei, aber die Furcht war geblieben. Eines Tages, kaum von ihrem Ausflug nach Zürich, Meersburg und Paris zurück, wird Nelly Sachs, gefangen im »Netz aus Angst und Schrecken«, nach einem Nervenzusammenbruch in die psychiatrische Abteilung einer Stockholmer Klinik eingeliefert.

Sie glaubt sich von Nazis verfolgt, und als Paul Celan, der ferne Freund, aufgeschreckt von der Nachricht, Anfang September 1960 aus Paris an ihr Bett eilt, kommt er vergebens. Die Kranke, die ihn schwärmerisch den »Hölderlin unserer Zeit« genannt hat, die mit ihm lange, immer in hohem Ton Briefe wechselte, bleibt stumm. Hat sie ihn nicht erkannt? Vielleicht. Möglich aber auch, dass sie ihn nicht erkennen wollte. Gewissheiten sind auch in diesem Fall nicht zu haben.

Die Wanderausstellung »Flucht und Verwandlung«, die später noch in Stockholm, Zürich und Dortmund Station machen wird, schiebt die ungeklärten Fragen, die Rätsel, die es in dieser Biografie nach wie vor gibt, nicht weg. Sie dokumentiert, so weit bekannt, die Geschichte einer 1891 geborenen Tochter jüdischer Eltern, die früh schon schreibt und publiziert, Texte, die sämtlich verschollen sind, die 1933 verstummt und erst in Schweden die Sprache wiederfindet. Dort steht ihr, welch Glück, die greise Selma Lagerlöf zur Seite, und auch ein Mitglied des Königshauses kümmert sich um sie. Dieses Leben ist geprägt von den furchtbaren Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts, vom Leid der Juden, von der Suche nach Schutz und menschlicher Wärme, ausgedrückt im unvergleichlichen Werk, das erst nach der Flucht aus Deutschland entstanden ist. Es hält die Erinnerung ans Grauen wach und macht immer wieder die Wundmale kenntlich, die all jenen eingebrannt sind, die dem Holocaust entkamen.

Zu sehen sind jetzt die Dinge, die zu diesem bescheidenen, ja ärmlichen Leben gehörten: ein Tischkalender, zwei Koffer, eine Schachtel mit Visitenkarten, dazu Handschriften, Typoskripte ihrer Gedichte, Fotos, Zeitungsausschnitte. An einer Wand die fotografierten Buchreihen ihrer Bibliothek. Und auch das blaue Kleid ist da, das Nelly Sachs am 10. Dezember 1966 getragen hat, als sie, gemeinsam mit dem israelischen Dichter Samuel Josef Agnon, in Stockholm den Nobelpreis für Literatur entgegennahm. Wenn man aufblickt von der Vitrine, in der Kleid, Kette und Urkunde liegen, kann man die Bilder sehen, die ein Kameramann damals festhielt. Inmitten der festlichen Männerrunde die Dichterin, klein, schmal und ernst, ein Wesen aus der Stille, das sich erneut in einem Märchen wähnte.

Zu verdanken ist die erste bedeutende Nelly-Sachs-Exposition vielen: dem Jüdischen Theater und der Königlichen Bibliothek Stockholm, dem Jüdischen Museum Berlin, der schwedischen Botschaft, dem Suhrkamp-Verlag. Zu rühmen freilich ist vor allem einer: der Schriftsteller Aris Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, ein Schwede wie so viele, die sich unermüdlich für Nelly Sachs eingesetzt haben und dafür sorgten, dass ihre Dichtung nicht in den Tiefen abgelegter Literatur verschwand. Er hat das präsentierte Material zusammengeholt, viel Unbekanntes aus dem Nachlass darunter, und er hat schließlich noch ein Übriges getan und für das informative Begleitbuch gesorgt.

Der Band, großformatig und reich illustriert, die bislang umfassendste, auch anschaulichste Dokumentation von Leben und dichterischem Schaffen, wird flankiert von den ersten beiden Bänden einer kommentierten Werkausgabe, die rechtzeitig zum Start der Ausstellung bei Suhrkamp erschienen sind. Herausgegeben von Fioretos, ist hier, chronologisch geordnet, die komplette, zwischen 1940 und 1970 entstandene Lyrik der Nelly Sachs versammelt. Eine solche Ausgabe, die auch die bislang ungedruckten Texte enthält, die das alles zudem ausgiebig erläutert und in den werkgeschichtlichen Zusammenhang stellt, gab es noch nicht. Zwei weitere Bände, angekündigt für September, werden die szenischen Dichtungen, die Prosa und die Übertragungen bringen. Eine wunderbare Gelegenheit, die am 12. Mai 1970 gestorbene Nelly Sachs neu und endlich ganz kennenzulernen.

»Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm«. Eine Sonderausstellung im Jüdischen Museum Berlin. Geöffnet bis zum 27. Juni 2010.

Katalogbuch von Aris Fioretos, 320 Seiten, Broschur, 29,90 €.

Nelly Sachs: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. von Aris Fioretos. Band 1: Gedichte 1940 – 1950, hg. von Matthias Weichelt, 347 S., geb., 44 €. Band 2: Gedichte 1951 – 1970, hg. von Ariane Huml und Matthias Weichelt, 427 Seiten, geb., 44 €. Alle Publikationen im Suhrkamp-Verlag.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal