»Hänge ich am Leben?«

Max Frisch und sein drittes Tagebuch: das Dokument seines Alterns

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 7 Min.

Wieder einmal New York. Er kennt die Stadt seit drei Jahrzehnten, er war oft genug hier, und er hat in Manhattan nun sogar eine Unterkunft, die er bei seinen Besuchen nutzen kann, auch wenn sie noch nicht fertig eingerichtet ist. Jetzt, 1982, sitzt er draußen auf der Feuertreppe, gleich wird er ein Blatt in die Maschine spannen, den Augenblick festhalten.

Max Frisch entschließt sich noch einmal zu einem Tagebuch. Zwei hat er bisher geführt und auch publiziert: 1950, 1972. Tagebücher im herkömmlichen Sinn, wie etwa Thomas Mann sie hinterließ mit peniblen Eintragungen noch über banalste Verrichtungen, waren beide nicht, auch keine intimen Journale. Frisch wollte nicht dokumentieren, was er den Tag über getrieben, gedacht, gemeint hatte, er war auch nicht aufs Beichten erpicht. Ihn reizte vor allem die Möglichkeit, sich literarisch auszudrücken, Gedanken, Beobachtungen, Begegnungen, Einfälle, auch die Grundrisse künftiger Arbeiten zu fixieren, nicht rasch, flüchtig und gewissermaßen nebenbei. Nein, hier war der Schriftsteller am Werk, der in den Tagebüchern ein Terrain fand, um sich als Erzähler zu schulen, als strenger, zu kunstvoller Verknappung drängender Prosaist.

Frisch, zu einem ähnlichen Unternehmen noch einmal entschlossen, hat mit seinen Aufzeichnungen im Frühjahr 1982 begonnen und sie ein Jahr später beendet. Man weiß nicht: War ihm das Ganze inzwischen gleichgültig geworden? Hielt es für missraten? Wollte er mit so viel Offenherzigkeit denn doch nicht vor ein Publikum treten? Eine Veröffentlichung hat er jedenfalls nicht erwogen. Im Gegenteil: Er hat die Seiten sogar vernichtet, und sie sind auch nur zufällig in einer Kopie erhalten geblieben.

Was jetzt, herausgegeben von Peter von Matt, im Suhrkamp-Verlag vorliegt und sich in aller Vorsicht »Entwürfe zu einem dritten Tagebuch« nennt, ist ein Text, der eigentlich nicht existiert und dessen Publikation in der Schweiz prompt einen Streit darüber ausgelöst hat, ob es gerechtfertigt war, aus den Blättern ein Buch zu machen und damit den Willen Max Frischs zu ignorieren.

Im letzten Herbst, als der Suhrkamp-Verlag die Erzählung »Antwort aus der Stille« wieder ans Licht brachte, ist die Frage, wenn auch nicht so dezidiert, schon einmal aufgetaucht. Zwar hat Frisch das Frühwerk, seine zweite Geschichte nach dem 1934 erschienenen Roman »Jürg Reinhart«, 1937 zum Druck gegeben, aber später, als er 1971 die Gesamtausgabe zu seinem sechzigsten Geburtstag zusammenstellte, nicht berücksichtigt. Er hielt das Buch für misslungen, und davon konnten ihn auch die freundlichen Rezensionen nicht abbringen, die einst die Bemühungen des 25-Jährigen kommentiert hatten. Es war, wie nun jeder Leser sehen kann, tatsächlich die Arbeit eines seiner Mittel noch nicht sicheren Anfängers, wofür vor allem die kolportagehaften Züge und pathetischen Töne sprechen, die sich in dem Buch finden.

Unausgereiftes, Unfertiges gar gibt es in diesem dritten Tagebuch nicht. Nichts deutet darauf hin, dass es sich hier um ein Fragment handeln könnte, eine aufgegebene Übung, die dem Urteil des Schreibenden schließlich nicht standhielt. Nirgendwo Skizzenhaftes, Missglücktes, Schiefes, Passagen, die noch der ordnenden Hand des Autors bedurft hätten. Hier ist alles in eine makellose Form gebracht. Es ist der vertraute, der lapidare, hochkonzentrierte Max Frisch, der in diesen Notizen zu finden ist, ein Mann in den Siebzigern nun, wach und müde zugleich, immer wieder mit dem Altern beschäftigt, der schwindenden Sexualität, dem Sterben, dem Tod.

»Ich bin alt, ich bin alt«, schreibt er einmal. Er spricht von der »Leere vor dem Tod«, und mit Bedacht wird erwähnt, dass sein Grundstück in Berzona an den kleinen Friedhof grenzt. Ein andermal erzählt er in seiner wunderbar knappen Diktion von Ernst Bloch, wie der, neunzig Jahre alt, bei einem Frühstück erklärte, er sei neugierig auf das Sterben, das Sterben als eine Erfahrung, die er noch nicht gemacht habe.

Ein naher Freund indes, der Zürcher Universitätsprofessor Peter Noll, verbringt, während Max Frisch am Tagebuch arbeitet, seine letzten Tage, und Frisch wird auf dieses Siechtum, erschüttert, mehrmals zurückkommen. Beide besichtigen gerade die ägyptischen Altertümer, da Noll die Reise abbrechen muss, wenig später, am 8. Oktober 1982, erliegt er dem Krebs, und es ist das einzige Mal, dass eine Eintragung in diesem Tagebuch ein Datum erhält.

»Immer grösser«, hat Frisch bereits bei anderer Gelegenheit formuliert, »wird mein Freundeskreis unter den Toten«. Er wird den Satz in seine Rede auf den Freund, die er zehn Tage später im Züricher Großmünster hält, übernehmen. »Hänge ich am Leben?« hat er schon nach wenigen Seiten gefragt, ohne direkt zu antworten: »Ich hänge an einer Frau“, schreibt er. »Ist das genug?«

Die Frau, seine junge Geliebte, dreißig Jahre jünger als er, ist Alice Carey, die Lynn der Erzählung »Montauk«, des einzigen Buches, das von einem Wochenende mit ihr im Mai 1974 erzählt, ohne zu erfinden, zu verhüllen oder wegzulassen. Ihretwegen pendelt Frisch seit 1980 zwischen Berzona, dem kleinen Ort im Onsernonetal, Zürich, wo er eine Wohnung gemietet hat, und New York. Aber jetzt, sieben Jahre nach den Montauk-Tagen, hat er Mühe, Schritt zu halten mit der Freundin, ihrem Temperament, ihren Erwartungen. Er strengt sich an, er will kein Pascha sein, für den Emanzipation bloß ein Wort ist, und natürlich lässt er gebrauchtes Geschirr nicht einfach stehen. »Wenn Fraue«, erklärt er, »die keinen Beruf ausüben, weil sie mit mir leben, sich als Hausfrau behandelt fühlen, missbraucht als Magd, so bin ich bestürzt … Die Frau als Lust-Objekt und Sklavin des Mannes, nein, das will ich nicht!«

Aber die junge US-Amerikanerin hat ihm längst klargemacht, dass es eine Zukunft mit ihr nicht geben wird. »Bin ich einsam?« fragt sich Frisch. Er vermeidet es, Ja oder Nein zu sagen, er erklärt nur, dass er manchmal gern allein ist. Er kämpft mit den Unzulänglichkeiten seiner Jahre. Er trinkt zu viel. Selbst das Schreiben geht nicht wie früher von der Hand: »Was ist bloß mit den Wörtern los?« Er schüttelt die Sätze, »wie man eine kaputte Uhr schüttelt, und nehme sie auseinander; darüber vergeht die Zeit, die sie nicht anzeigt«.

Später der Eintrag: »Tagsüber am Schreibtisch – Es langweilt mich jeder Satz, den ich geschrieben habe, es hilft auch nicht, dass ich Wörter umtausche in meinem Turm, und das ist es, was ich tagelang mache; ich tausche Wörter gegen Wörter.«

Doch wenn Frisch hochsieht und der Blick über den Schreibtisch hinaus geht, weicht die Milde, die in diesen Notizen herrscht, dem Erschrecken. Was draußen passiert, vor den Türen seiner Behausungen, beschäftigt ihn noch immer. Er registriert besorgt die hohen Rüstungsausgaben der Amerikaner, die waffenstarrende Konfrontation der Supermächte, den geplanten Bau der Neutronenbombe, die israelische Belagerung Beiruts. Er hadert mit der Politik Ronald Reagens, und noch einmal ist sie da, die Zeit der Ängste und eines möglichen Atomkriegs.

Erst zuletzt, im Schlussteil des Tagebuchs, wird ein Traum die Nöte und Beschwerden, Alter, Einsamkeit und Tod in den Hintergrund drängen. Dann baut sich Frisch in der Fantasie die „«eisse Villa« mit Veranda, Piano und beachtlicher Bibliothek, das geräumige »Lebensabendhaus« mit Obstbäumen, Birken und Buchen ringsum und einem See nicht weitab, und für Alice, wenn sie kommt, steht ein Pferd auf der Weide.

Max Frisch, der Greis, sitzt in Gedanken stumm bei den jungen Gästen, die er zu sich bittet, sitzt da, ausgesöhnt mit sich und dem Leben, ein Mann, der seine Arbeit getan hat, der hin und wieder etwas auf der Maschine tippt, aber keine Interviews mehr gibt, zufrieden, dass er nicht im Mittelpunkt steht.

Es sind berührende, dezent hingetupfte Sätze, die das Tagebuch am Ende krönen, Seiten, die in ein sanftes, warmes Licht getaucht sind, vielleicht die schönsten, ergreifendsten des ganzen Buches. Unfassbar, dass Max Frisch, aus welchen Gründen auch immer, die Aufzeichnungen am Ende verwarf. Ein Glück, dass sie erhalten blieben.

Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Hg. und mit einem Nachwort von Peter von Matt, Suhrkamp Verlag, 215 Seiten, geb., 17,80 Euro €.

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