Gefühlte Rätselwelt

»Neo Rauch. Begleiter« – eine Doppelretrospektive in Leipzig und München

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 7 Min.
»Krönung I«, 2008
»Krönung I«, 2008

Seien wir ehrlich, geben wir doch zu, dass wir zuvörderst emotionale Wesen sind. Ehe der Verstand, der hochgezüchtet ist wie ein Rassehund, nach langdauernden Hin- und Her-Konferenzen sich zu einer Aktivität entschieden hat, ist's geschehen, haben wir’s längst getan. Bestimmt hat der Bauch. In ihm verwahren wir noch die Urerfahrungen, hier steckt weiterhin unangepasst der Wolf. Den Gefühlen sollte man trauen, der Analytiker im Kopf sei vorerst still, wenn man vor den Gemälden von Neo Rauch steht. Der Künstler selbst hätte es so am liebsten. Und er darf sich was wünschen, schließlich wurde die Doppelausstellung in Leipzig und München eigens zu seinem 50. Geburtstag eingerichtet. Je 60 seiner Werke aus dem Schaffenszeitraum von 1993, als sich deren spezielle Ikonografie herausgeschält hatte, bis zu den staffeleifrischen aus diesem Jahr werden gezeigt.

Wünsche an den Betrachter zu äußern, hat etwas Malerfürstliches. Aber Neo Rauch ist nicht anmaßend. Gibt nur würdevoll-bescheiden mild-hilfreiche Sehanleitung für seine rätselvollen Bilder: Es gehe nicht so sehr darum, »zerebrale Interpretationslust in sich wachzurufen, sondern sich so in sie hineingleiten zu lassen wie in Träume«. Die dann randlos auslaufen, sich in Halbsätzen verflüstern und vor allem Gefühlsspuren hinterlassen. Auch wenn wir es fast nicht aushalten, etwas zu sehen, ohne es zugleich zu deuten. Rauch mutet es uns zu. Empfiehlt uns: Die pure Malerei soll wahrgenommen werden, das, was im Zusammenklang der Farben, Formen, Bildräume geschieht, erst dann und nur ein bisschen das Erzählerische der Figurationen auf der Leinwand. Denn er selbst versucht »malend Traum zu simulieren«.

Die überwiegend großformatigen Ölgemälde, zumeist auf Leinwand, aber auch auf dem schwierigen Papier, öffnen sich wie gewaltige Bühnen und wir stürzen ohne jede Vorwarnung ins detailreiche, spannungsgeladene und meist unheilschwangere Geschehen. Allein wie es uns mit unserer gewöhnlichen Seherfahrung entgegenkommt, irritiert. Groß ist, was klein sein müsste, und umgekehrt. Die Verknüpfung der Bildzonen entbehrt scheinbar der Logik, Perspektiven, Proportionen, Synchronität der Handlungsverläufe, historische Ummantelung – nichts stimmt: Wir sind im Wunderland der Widersprüche. Empfangsbereit für die kryptischen Bildmitteilungen, die divergierenden Signale, sind wir jedoch wie ein fahrender Zug, dessen Gleis auf freier Strecke plötzlich endet. Es geht nicht weiter, die Schienen liegen forthin anderswo, hinter Nebelbänken vielleicht oder über fahlen Dächern oder allen Himmeln.

Also besser Rauchs Rat befolgen. Aber auch das ist nicht leicht. Das Narrative, Symbolische gar, zu ergründen, bleibt erster Impuls. Zum Beispiel »Wahl« von 1998. Dieses Ölgemälde auf Leinwand wurde für die Münchner Ausstellung zum Signet genommen. Es entwirft eine skurrile Ateliersituation. Im Vordergrund ist ein Maler zu sehen mit doppeltem Gesicht, maskenartig das erste, und es gehört einem Mann, der dabei ist, sein Gemälde zu vollenden. Dieses sieht genauso aus wie zwei weitere im Hintergrund, die gerade abtransportiert werden. Das Motiv auf den drei Bildern: riesige Blindenzeichen. Schwarz mit drei weißen Punkten wie die Maske selbst. Auffällig auch das Leporello, das die Atelierwand bildet, hinter der ein Zipfelchen grüne Natur, ein Stückchen Wald, zu sehen ist. Dicke grüne Kabel beziehen von dorther offenbar Energie, die dem Sockel der Staffelei zufließt. Eine der möglichen inhaltlichen Deutungen könnte lauten: Soll alle Schaffenskraft des Künstlers, die er aus einem lebendigen Außen bezieht, sich in der gängigen abstrakten Malerei erfüllen? Er hat die Wahl: sein Gesicht wahren oder sich weiterhin verstellen, austauschbare Serienkunst produzieren und »Schema F« bedienen.

Für die Außenwerbung der Leipziger Schau wurde »Krönung I«, ein Ölgemälde von 2008, ausgewählt. Ein Mann in schwerem, biedermeierlichem Mantel kniet auf einem kronenbezackten, flachen Podest, davor auf dem Boden spärliche Teelichte. Er wird von einem groben oberkörperfreien Gehilfen in die richtige, leicht unterwürfige Haltung gedrückt. Hinter seinem Rücken steht ein weiterer Mann. Seine Kleidung verrät einen gewissen Rang. Über dem aufrecht gehaltenen Haupt des Knienden hält er, wie um ihn zu bekrönen, ein zylinderartiges schwarzes Etwas. Es können montierte Bleiplatten sein, nicht ganz so schwer wie der zugeschnürte Sack, der die linke Hand des Knienden ersetzt. Die rechte ist eine helle Blase, mit zwei Flecken, die auch eine Pingpong-Kelle mit Ball sein könnte. An der Seite der Figurengruppe sind auf einem Pappkarton Bücher wie ein Kartenhaus zum Turm übereinandergestellt. Ihm entschweben Insekten, die Stechmücken der Gedanken. Die mögliche Interpretation des Ganzen? Ach, kaum hat sich dem Betrachter Sinn aufgespannt, reißt das Sprungtuch des Erkennens wieder. Nehmen wir mal an, es geht um die fragwürdige Situation der Intelligenz. Oder um die Bürde des Ruhms? Denn es könnte ein Selbstporträt sein, ebenfalls mit Anspielung auf den Roman »Der Turm« von Uwe Tellkamp. Die »Ouvertüre« insbesondere, mit der das Buch beginnt, hatte Rauch außerordentlich beeindruckt, und Tellkamps Beitrag für das ungewöhnliche, künstlerisch aufgemachte Katalogbuch zur Retrospektive ist es denn auch, in der der Maler eine literarische Entsprechung zu seinem Werk sieht.

Doch weiter, was ist mit uns? Wir werden hereingebeten in die kalten Kammern der Kümmernisse der Bildgestalten, immer nur ungemütlich geht es zu. Was immer Rauch malt, es sind Dossiers der Tücke. Freudige Erregung bleibt hier ein Fremdwort. Überhaupt das Herz – irgendwie scheint es abhanden gekommen zu sein. Wir erahnen, die Bilder sind auf einen bestimmten Zweck hin raffiniert komponiert. Aber selbst wenn er Landschaften ins Bild setzt, und sie sind apart, wirken sie so kalt, dass man ihnen entrinnen möchte. Ob es das ist, Kälte, Gewaltbereitschaft, Chaos, das, was in den schaurigen Kellern unseres Gemüts lagert und ins Tagebuch unserer Zeit eingeschrieben ist?

Bei der Annäherung an Kunst orientieren wir uns gern an geschulten Urteilen und klaren Wertmaßstäben. Werner Spies, der große Kunstkenner, eng vertraut beispielsweise mit dem Werk Max Ernsts, steckt Rauch ins Fach des Surrealismus. Nun, ja, das hilft uns nicht weiter. Aber Wissen ist jedenfalls die Voraussetzung, wenn man eine der Qualitäten des Malers würdigen will: Wie kein anderer deutscher Maler zitiert Rauch Größen der Kunstgeschichte. Seinen Inspirationsquellen nachzuspüren, kann auch heißen, weitere Etagen des Leipziger Bildermuseums zu erklimmen, wo Klimt thront, Beckmann herrscht, Tübke glänzt, oder das Werk der Lehrer Rauchs, eines Bernhard Heisig, Arno Rink, zur Kenntnis zu nehmen.

Manche Kritiker sind schnell fertig mit ihrer Einschätzung, die sich aus außerkünstlerischen Gründen speist. Ihnen ist Rauchs millionenschwere internationale Marktpräsenz, befördert von seinem beziehungenschaffenden Galeristen Gerd Harry Lübke – und beide Männer aus dem Osten, den der Westen »ausgeknipst« hatte! –, ein Dorn im Auge. Ebenso ergrimmt sie der Siegeszug der angeblich ausgelutschten figürlichen naturalistischen Malerei. Sie stand ihnen für Unfreiheit des Ostens. Und so fertigen sie Rauchs Bilder kurzerhand ab als »Ölschinken« und den vermittelten Gefühlsausdruck als »Dauerdepression«.

Sie wissen nicht, womit sie es zu tun haben, vor allem nicht, mit wem. Rauch kann alles malen, beherrscht jede Art Malerei, und nicht nur die auf Leinwand und Papier. Hat in seinem umfangreichen Oeuvre einen ungeheuren Reichtum an Bilderfindungen voller Eigentümlichkeiten geschaffen, der immer mehr wächst. So wie in den letzten zehn Jahren, da Rauch Farbpalette, Raumtiefe und Bilddichte änderte – man sieht es in den nicht-chronologisch gehängten Ausstellungen und erkennt, dass selbst das Ältere in seinem Werk nicht passé ist –, so wird er in den nächsten Jahren beweisen, dass er nicht als »Tischfeuerwerk« (Rauch) ab- und ausgebrannt ist. Am Beispiel Neo Rauch zeigt sich also auch: Es ist nicht ausgestanden, die Ost-West-Kunstschlacht, angekurbelt von Marktinteressen und Prestigegehasche, brodelt noch. Und simple journalistische Berichterstatter springen auf den Zug der Häme: Neo Rauch »ist im künstlerischen Olymp angekommen, ob er da bleibt, wird sich zeigen.«

Was sagen die beiden Ausstellungs-Aushängeschilder? Er ist gekrönt. Nun hat er die Wahl. – Wir urteilen nach unserem Gefühl.

Museum der bildenden Künste Leipzig und Pinakothek der Moderne, München, bis 15. August

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