Fünf Minuten aus dem Leben einer Frau

Dresden: An der Semperoper gruben Gerd Albrecht und Günter Krämer »Notre Dame« von Franz Schmidt aus

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 4 Min.
40 Sekunden vor 12; Camilla Nylund als Esmeralda
40 Sekunden vor 12; Camilla Nylund als Esmeralda

Der Plot ist nicht allzu weit entfernt von Victor Hugos berühmter Romanvorlage – und damit von den diversen Verfilmungen des Glöckners von Notre Dame. Natürlich konzentrierter für die etwas mehr als zweieinhalbstündige Opernfassung. In Dresden waren es jetzt sogar mit einer Pause nur noch insgesamt zwei Stunden. Dass keine allzu große Ehrfurcht vor dem Original obwaltete, mag auch mit einem gewissen (berechtigten) Misstrauen gegenüber Text und Musik zu tun haben. Sicher ist da nicht jede Note unverzichtbar und auf keinen Fall jede Textzeile die hohe Dichtkunst.

Manche Passage hat der Komponist Franz Schmidt (1874–1939) komponiert, bevor noch der Text fertig war. Überhaupt ist ihm alles ziemlich symphonisch geraten. Das klingt nach abgerüsteter Spätromantik mit Hang zum breit aufgetragenen Sound, wie ihn ja viele in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts pflegten, wenn sie nicht gerade die Musik revolutionierten (wie Schönberg) oder ihr eigenes spätromantisches Universum durchsegelten (wie Richard Strauss).

Musikalisch für sich genommen, und in den Zeiten eines schmal gewordenen Kernrepertoires, hat eine solche Ausgrabung allemal ihre Berechtigung. Noch dazu an einem Haus, in dem die beiden Richards (Wagner und Strauss) Hausgötter sind. So wie Günter Krämer »Notre Dame« inszeniert hat, erweist sich der 1914 uraufgeführte Dreiakter obendrein als offen für etliche auch heute noch virulente Fragen, die über das klassische Bühnen-Problem hinausgehen, dass mehrere Männer dieselbe Frau lieben, sich deswegen die Köpfe einschlagen, um am Ende dann die Frau auch noch umzubringen.

Wenn hier eine Esmeralda (Camilla Nylund) mit Marilyn-Monroe-Frisur im Orange der US-Justiz in einem farblich und perspektivisch grell überzeichneten Hinrichtungsraum auf einen elektrischen Stuhl geschnallt ist, dann steht die Uhr auf fünf vor zwölf. Und obwohl der Sekundenzeiger im Echtzeitmaß rotiert, bleibt die Uhr bis kurz vor Schluss auf dieser symbolischen Marke. Die eigentliche Handlung wird somit zur Erinnerung an ein Leben, das die Begegnung mit verschiedenen Männern kennzeichnet. Wenn dazu von der Hinrichtung einer Unschuldigen erzählt wird, und das so aussieht, wie heute noch praktiziert, dann bleibt die Absurdität der Todesstrafe so präsent wie in der 2007 in Dresden gezeigten Oper »Dead Man Walking« von Jake Haggie. So versinkt sie jedenfalls nicht folkloristisch in der mittelalterlichen Ferne.

Noch beklemmender ist das Porträt, das der exzellente Markus Butter vom Archediakon zeichnet. Der Rücken des smarten, jungen Priesters ist voll blutiger Striemen. Er geißelt sich immer wieder selbst, weil er mit dem Widerspruch zwischen seinem Keuschheitsgelübde und den sexuellen Obsessionen, die Esmeralda in ihm weckt, nicht anders fertig wird. In einer Ballettszene mit einem halben Dutzend Alter Egos mit dem gleichen Problem öffnet Krämer auch hier einen Assoziationsraum in die Debatten der Gegenwart, ohne sie gleich plakativ zu verramschen.

Herbert Schäfer hat im zweiten Bild das Innere der Pariser Notre Dame sinnlich stilisiert nacherfunden. Langgestreckte Buchstaben formen den Namen der berühmten Kirche und schaffen zugleich einen sakral anmutenden Raum. Hier versucht der gutmütige Glöckner Quasimodo (Jan-Hendrik Rootering) Esmeralda zu retten. Das wird vom Volk erst bejubelt. Als die Häscher sich nähern, fordern die von Michaela Mayer-Michnay gutbürgerlich uniformierten Massen – opportunistisch wie sie sind – ihre Hinrichtung. Da waren die beiden anderen Männer in Esmeraldas Leben, ihr offizieller Ehemann Gringoire (Oliver Ringelhahn) und der von ihr wieder geliebte Hauptmann Phoebus (Robert Gambill) längst tot. Da hatte nämlich der eine erst den anderen und dann sich selbst erschossen.

Am Ende ist es Punkt zwölf und Esmeralda tot. Der Priester hat fortan ein wirkliches Gewissensproblem.

Wie schon bei Othmar Schoecks »Penthesilea«, so war auch diesmal wieder Gerd Albrecht am (derzeit ja nach Fabio Luisis Abgang verwaisten) Pult der Sächsischen Staatskapelle der musikalische Anwalt dieser Ausgrabung. Dass er mehr auf Transparenz bedacht war als darauf, den eh schon weichgespülten Klang noch durch einen Feinzerstäuber à la Strauss zu schicken, bekam diesem im Ganzen gelungenen Unternehmen ausgezeichnet.

Nächste Aufführung: 24. April

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