»Die Stadt gibt es nicht mehr«

Juri Andruchowytsch: »Werwolf Sutra«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie benenne ich das Weltgefühl, das die Texte verbindet? Verlorenheit? Und was wäre damit gesagt über das bodenlos Schwingende dieser Gedichte, die so viel mehr sind, als die Worte sagen? Beschreibst du ihren Inhalt, erfasst du sie doch nicht. Du liest und siehst die Welt mit den Augen eines anderen, der mehr Weltbürger ist als du, obwohl oder gerade weil er weit im Osten Europas lebt. Juri Andruchowytsch wurde 1960 in Iwano-Frankiwsk geboren, einer Stadt, die ursprünglich Stanislawow hieß und zur polnischen Wojewodschaft Ruthenia gehörte, 1772 österreichisch wurde, 1919 für kurze Zeit Hauptstadt der Westukrainischen Volksrepublik war, dann wieder zu Polen kam, 1939 der Sowjetunion angegliedert und 1941 von der deutschen Armee besetzt wurde. Etwa ein Drittel der Bevölkerung waren Juden – sie wurden umgebracht. Ein weiteres Drittel waren Polen – sie wurden nach dem Krieg zwangsweise umgesiedelt. Und nun ist es auch mit der Sowjetunion vorbei, gehört die Ukraine zur EU, Schriftsteller von dort logieren in Schloss Wiepersdorf, reisen nach Italien oder fliegen in die »Staaten«. Die Welt ist offen, du bist frei. Aber wer bist du? Was ist Heimat für dich?

Der Band besteht aus zwei Gedichtzyklen: In »Exotische Vögel und Pflanzen« sucht Andruchowytsch im heutigen Lwiw nach Spuren der alten österreichischen Stadt Lemberg. In »Lieder für den toten Hahn« sind Impressionen von Reisen in viele Länder gesammelt, immer wieder durchmischt von Liebessehnsucht und -kummer. Geht es zunächst um – vergebliche – Versuche, sich irgendwie zu verwurzeln, gibt es irgendwann fast gar keine Bindungen mehr. Alles scheint flüchtig, schwimmt einem Abgrund zu. »The News of The World«, »Welcome to my Foolish Dreamland«, »Old Soldier Is Very Drunk«, »Absolutely Vodka« – viele Texte in diesem zweiten Teil sind englisch überschrieben, was der ironisch-sarkastischen Stimmung eine Pose gibt. »Nur in Träumen, in denen alles blödsinnig ist,/ sieht es wirklich aus.«

Ich staune, wie diese fremden Texte mir nahe kommen. Was einerseits daran liegt, dass der Autor zur Einfühlung einlädt. Aber noch wichtiger ist, wie sinnlich-direkt er das Atmosphärische einer konkreten Situation beschreibt, sodass diese zu existenzieller Bedeutung gelangt. »Without You« birgt die ganze Wucht des »Ohne-Dich-Gefühls« und ist zugleich eingängig wie ein Popsong. Andruchowytsch spielt mit Trivialmythen, ist sich der medialen Abhängigkeit bewusst, in der wir alle leben. Was wir auch meinen, Einmaliges zu tun, es entspricht doch nur einem von vielen möglichen Mustern. So besonders wir uns fühlen, haben wir mitunter Mühe, ganz wirklich zu sein. Als ob wir nur etwas nachahmen, nur simulieren würden, und der unwiederbringliche Augenblick geht verloren.

Ein uneingestandener Schmerz um den Verlust des Echten treibt die Gedichte hervor. Benebelt zu sein, wird durch Wodka nur begründet. Doch beim Schreiben darüber grelle Klarheit, keine Illusion bezüglich einer Wirklichkeit, die man nur abgeklärt ertragen könnte. So wie Andrzej Stasiuk vielleicht, der Dichterfreund. Andruchowitschs Gedicht »More Than a Cult« über ihn enthält, wozu Literaturwissenschaftler – so sie scharfsinnig genug sind – viele Seiten brauchen würden. Und mehr als das: Erwägungen über Stasiuks Europa, nämlich »das, was zwischen das zerstörte und das noch nicht gebaute Haus/ hinein paßt«.

An dieser Stelle ist lauthals Stefaniya Ptashnyk zu loben, die junge Übersetzerin, die aus Lwiw nach Heidelberg kam und deshalb umso vertrauter war mit dem Lemberg im ersten Teil des Buches. »Es gibt Städte, die kann man/ durch kein Tor betreten«, sagt Andruchowytsch. Lemberg, wie er es erkunden will, gibt es nicht mehr. Aber weil er es unbedingt will, hört er »das Geflüster der Jahrhunderte« – am Marktplatz, am Bahnhof, bei der Kaserne, der Universität ... Und mischt sich in den Flug der Geister vom Schlossberg um Mitternacht. Er ist Wolf Messing, dem berühmten Wahrsager, nah ebenso wie der Nonne Josepha Kuh, die Ende des 18. Jahrhunderts sentimentale Gedichte schrieb, sehnt sich nach dem Tango »Weiße Rose« aus den 20er, 30er Jahren, begegnet den Toten am Ort der einstigen Synagoge, wo heute eine Bierhalle steht.

Das Heute ohne Glanz, das Gestern spannungsvoll. Und wie schön der Gedanke, dass im Untergrund der Stadt Wale und Delfine leben, Löwen, fliegende Zebras, Saigas und Rehe, Krokodile, Mammuts. Und: »Am Waldrand grast das Einhorn/ (mit dem Nashorn nicht zu verwechseln) ... Sanftes Tier. An seiner dünnen Haut/ zerbricht der Speer wie ein Stengel.«

Andruchowytsch – ein Romantiker, der cool tut, einer, dem die Erde nicht reicht, für sich einen Platz zu finden. – Aber das ist auch bloß ein Klischee ...

Juri Andruchowytsch: Werwolf Sutra. Gedichte. Verlag Das Wunderhorn. 92 S., brosch., 17,80 €.

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