Kranich vor Flussufer und Ruinen

Armin Petras inszenierte am Maxim Gorki Theater Berlin »We are Blood« von Fritz Kater. Eine Uraufführung

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Sehnsucht stirbt zuletzt. Oder aber gar nicht, und wenn doch, dann wird gerade sie als erste wieder auferstehen aus all den Abbrüchen, die noch längst keine Aufbrüche sind, bestenfalls unbestimmte Umbrüche. Das vielleicht ist ein Resümee aus dreieinhalb Stunden irritierend voranströmender Textunbedingtheit, die hier doch immer aus tiefster Wortunsicherheit kommt.

Was soll man sagen, die Worte sind alle nicht groß und nicht klein genug für jenen Lebensbogen, der uns am Ende immer tot sieht. Dabei als Teil einer Geschichte, die weitergeht. Armin Petras, der sich als Autor beharrlich Fritz Kater nennt, obwohl dies Pseudonym längst nicht mehr ist als ein Hinweis, dass hier der Autor und nicht der regieführende Intendant spricht, konfrontiert uns am Maxim Gorki Theater mit einer ungewohnten Art Geschichtsmythos. Vom Himmel durch die Welt nach Wittenberge und weiter in die Hölle?

Anstoß für »We are Blood« – Wir sind das Blut – war das Projekt »Über Leben im Umbruch«, in dem Soziologen, Ethnologen und Kulturwissenschaftler rund um Wittenberge drei Jahre lang ein Phänomen zu beschreiben versuchten, das man auch sehr elementar mit dem Vergehen von Zeit übersetzen kann. Was macht dieser Zeit mit uns? Sie lässt uns immer neu alt aussehen, aber bleibt dabei nicht stehen. Das kann tröstlich sein, muss nicht. Petras/Kater proben mit stereoskopischem Blick eine Monumentalgeschichte, die bereits durch alle Täler der Entillusionierung gegangen ist, jede Form von Banalisierung kennen gelernt hat.

Armin Petras ist nicht weniger als ein moderner Mystiker im Stile Meister Eckharts, der von der Wiedergeburt der Welt auf dem Grunde der Seele wusste. Da kommt dann alles zusammen: Pathos bis zur hohlklingenden Sprüchermacherei unserer Zeit, bittere Ironie, die regelmäßig ins collagierte Leere geht, wütende Aggression, die kein Gegenüber findet und immer weiter rast und rast – bis sie in Tränen zusammenbricht. Da ist Stummheit angesichts von Verrat, doch jenseits von allem, was man einem Menschen vorwerfen kann. Da ist schreiende Einsamkeit und flüsternde Bitte um Liebe. Das Ganze balanciert ständig auf der Grenze zur Kolportage und dann erschrecken wir: Das sind ja wir, das ist unser Leben, jederzeit kitschgefährdet und banal, bestenfalls melancholisch.

Der Abend entzieht sich der Nacherzählbarkeit. Eine Pilgerreise zu jenem Wesenskern in uns, den man Seele zu nennen gewohnt und deren Existenz ebenso zweifelhaft wie unstrittig ist. Petras kommt nahe heran an das Geheimnis, aber weniger in der Geschichte, die wir hören und sehen, vom Naturschutzgebiet und dem Autobahnbau, von Menschen, die in wechselnden Verhältnissen sie selbst zu bleiben versuchen, doch außer einem vagen Ich-Gefühl nichts haben. Genau darum geht es in dem, was hier nicht gesagt, sondern gezeigt wird.

Die Bühne von Susanne Schuboth: eine leere Fläche, eingezwängt von zwei unbestimmten Blocks rechts und links. Der Fortschritt bedrängt uns. Davor ein Vorhang aus Seilen, Fluchtmittel ebenso wie Fesseln. Dazwischen Klappen im Boden, böse Fallgruben der Geschichte, in denen man jederzeit vorzeitig verschwinden kann. Wir sind freigesetzte Elemente der Entwicklung, Treibsand der Geschichte – und doch kommen wir nicht los von dem, was Ursprungsszene unserer Ich-Werdung ist.

Ort und Zeit sind keineswegs beliebig und all den Schmutz, die Lüge, den Verrat und die Bedrängung nehmen wir ebenso mit auf unseren Fluchten wie die Hoffnungen und Sehnsüchte einer vergangenen Zeit. Das ist dann das, was man Biografie nennt: immer heillos anachronistisch. Keine spätere Zeit kann sich einer früheren verständlich machen, kein Mensch einem anderen von seinen Sehnsüchten erzählen, ohne zu lügen. Denn die Worten passen nicht mehr hierher, da ist etwas gestorben, und wir stehen sprachlos vor jener Grenze, hinter der das Gestern ebenso wie das Morgen anfängt.

Diesen Punkt umkreist Petras beharrlich mit einem wunderbar intensiv choreografierten Abend. Körper beginnen zu sprechen, wenn Worte versagen. Erlösung heißt das eine Zentrum, Vergeblichkeit das andere. Und so sehen wir nun auch Armin Petras mit all dem Erinnerungsschutt seiner Ost-West-Biografie beladen auf der Proustschen Suche nach der verlorenen Zeit.

Ein wenig mutet uns der verzweifelt aberwitzig-absurde Bogen an wie Werner Bräunigs »Rummelplatz« abgelauscht, den Petras hier im vergangenen Jahr inszenierte. Ein großes Thema, das deshalb groß ist, weil der Strom des Erzählens sich an ihm immer neu entzündet. Einige laue Stellen aus falscher Eindeutigkeit, wie jene Politanimation unmittelbar nach der Pause, sieht man Petras dann gern nach.

Stark die Schauspieler, die mit Petras zusammen ein erstaunliches Plus an Ausdrucksenergie erlangen. Manches Bild des auf der Bühne ineinander fallenden und sich sofort wieder vereinzelnden Ensembles scheint nicht weniger als eine moderne Ikone, in der Sehnsucht und Verzweiflung kulminiert. Hinreißend Regine Zimmermann in einer Doppelrolle: Erschütternd, wie sie den Lebenshunger eines sterbenden Jungen auf die lasziven Posen eines in den Poren der Zeit versickernden Weibchens prallen lässt. Julischka Eichel beeindruckt durch jenen Ausdruck, der aus Zurückhaltung kommt. Ebenso Hilke Altefrohne, Peter Kurth, Max Simonischek, Matti Krause, Carlo Ljubek und Christian Kuchenbuch. Alle suchen sie nach Einbrüchen von Wahrheit in ihr entfremdetes Leben. Lauter Ausbruchsfantasien.

Was wir hinter dem Sichtbaren sehen: einen Psalm, wie ihn Trakl einst dem Krieg ins verständnislose Gesicht warf, lauter Angst, Wut und brachliegender Zärtlichkeit abgerungen. Wuchtig sich aus lauter Schwäche aufschwingend – inmitten des Terrors von Ökonomie und Geld –, klingt dann das verwundbare Pathos, das Petras in den Zuschauerraum hineintönen lässt, vollkommen ungeschützt – und wir in der Deckung unserer Skepsis hören es verwundert: »die latifundien meines begehrens werden nicht mehr gedüngt / wir sterben weil reparaturprozesse in unserem organismus nach einer bestimmten zeit zum stillstand kommen ließen / sich diese in der jugend hochaktiven reparaturprozesse aufrechterhalten bräuchten wir den tod nicht zu / fürchten wir sind in der gen technik nahe dran / aber was nützt dieses lange leben brauchen wir dann auch mehr speicherkapazität um uns erinnern zu / können wie wäre die beziehung zu unseren kindern wenn keiner mehr sterben keiner gehen würde / das dilemma ist das was wir wissen müssten um verantwortungsvoll zu handeln können wir im prinzip nicht / wissen..

Hier liegt sie, die Hermetik eines Moments: offen.

Nächste Vorstellung: 9. Mai

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