Wir leben alle in Babylon

  • Dorothee Sölle
  • Lesedauer: 2 Min.
Die 72-jährige Religions- und Literaturwissenschaftlerin ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland.
Anfang der 80er Jahre begrüßte mich ein amerikanischer Freund in New York mit den Worten: »Welcome in Babylon on Hudson«. Damals stand das Wahrzeichen der wirtschaftlichen Macht, die Türme des World Trade Centers, noch. Babylon ist in der prophetischen Tradition der Bibel das Land der amüsanten Selbstbereicherung und zugleich der Ort der Verbannung des Volkes aus seiner wahren Heimat... Im ersten Buch der Bücher hat das Wort Babel noch eine andere Bedeutung, wir kennen alle die Geschichte von dem Turmbau zu Babel, der einstürzt, weil die Menschen, die ursprünglich nur eine Sprache hatten, sich plötzlich nicht mehr verstehen. »Hast du noch drei Ziegel für mich?« fragte ein Arbeiter und bekam zur Antwort »Habakutschkalla«, was wahrscheinlich auf deutsch »Was willst du Esel eigentlich von mir?« bedeutet. In Babylon hat man keine gemeinsame Sprache mehr. Die einen verstehen immer nur: »Was bringt's? Rechnet es sich?« Cash und Fun sind die Lieblingswörter der Babylonier. Die anderen verstehen immer nur: »Die Schule fällt mal wieder aus, der Lehrer ist Taxifahren gegangen.« In Bolivien, einem Land, das ich gut kenne, wird er so miserabel vom Staat bezahlt, dass er das tun muss, wenn er überleben will. Und der Staat Bolivien bekommt von den Weltbesitzern gesagt, »Schön, Sie bekommen einen Kredit, aber nur wenn Sie die Staatsausgaben verringern.« Weniger Geld für Schulen, für die wenigen Staatlichen Krankenhäuser, für Transportmittel und Notfallhilfe, das ist das Diktat der Herrn dieser Welt. Für Militär und Polizei darf natürlich ausgegeben werden, aber alle soziale Verantwortlichkeit soll privatisiert werden. Wir leben alle in Babylon. Wie definieren wir eigentlich Gewalt? Das Einschlagen von Schaufenstern oder das Anzünden von Autos ist natürlich Gewalt, und ein klarer Rechtsbruch. Aber wenn eine Behörde eine Exportlizenz für Waffen, die Kinder gut bedienen können, erteilt (da bekanntlich aller Handel frei und unbehindert sein muss), ist das auch Gewalt? Oder wenn das Spekulieren an der Getreidebörse in Chicago Tausende von Menschen in den Hungertod treibt, weil die Notprogramme bei steigenden Preisen nicht mehr finanziert werden können, ist das auch Gewalt? Es ist in der Welt Babylons völlig legal. »Free trade« ist einer der wichtigsten Götzen, die über uns herrschen. In Babylon.
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