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Flugblätter an der Gedächtniskirche

Andres Veiel dreht seinen ersten Spielfilm, die »Vorgeschichte des deutschen Terrorismus«

  • Hans-Günther Dicks
  • Lesedauer: 3 Min.
Flugblätter an der Gedächtniskirche

Ein trüber Maisonntag an der Berliner Gedächtniskirche. Touristen schlendern vorbei, die Fotoapparate gezückt. Den Mann, der gestikulierend ganz oben in einem leeren Fensterbogen der Turmruine steht, bemerken sie kaum. Auch unter dem langen Vordach des modernen Anbaus spazieren Fußgänger kreuz und quer, sie allerdings im Look der 1960er Jahre. Erst als es von Turm und Dach plötzlich Flugblätter regnet, ein junger Mann mit wildem rotem Wuschelhaar in ein Megafon schreit und sein »Glotzt nicht so blöd!« von den Spaziergängern mit »Geht doch rüber!« beantwortet wird, ist das Rätsel gelöst: Hier spielt man Frontstadt im Kalten Krieg, genauer: eine Protestaktion der von der Springerpresse zu Staatsfeinden hochgespielten Kommune I.

Die Spaziergänger sind Komparsen für eine Szene zu »Wer wenn nicht wir«, dem ersten Spielfilmprojekt von Dokumentarfilmer Andres Veiel, der sich nach seinem »Black Box BRD« nun erneut dem Thema RAF zuwendet, aber auf andere Art: Ausgehend von einem 2003 erschienenen Sachbuch von Gerd Koenen hat Veiel mehrere Jahre recherchiert, ein Drehbuch entwickelt. Er wollte, wie er in einer Drehpause erklärt, »nicht wissen, was passiert ist, sondern warum«. So geht er mit »Wer wenn nicht wir« an den Anfang dieser turbulenten Zeit zurück und erzählt, so ein etwas vollmundiger Produktionstext, »von der Vorgeschichte des deutschen Terrorismus, vor allem aber von einer leidenschaftlichen Liebe, die zu groß war für diese Welt«.

Die Namen von zwei der Hauptfiguren stehen bald auf Fahndungsplakaten: Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Deren Darsteller sind Alexander Fehling und Lena Lauzemis. August Diehl spielt den Dritten im Bunde und Veiels eigentliche Hauptfigur: Bernward Vesper, Sohn des NS-Schriftstellers Will Vesper und seit Tübinger Studententagen mit Ensslin in leidenschaftlicher Liebe und politischem Engagement gegen die restaurativen Tendenzen in der Wirtschaftswunder-BRD verbunden. Gudrun Ensslin wird für Vesper die Frau seines Lebens. Doch während sie sich immer weiter radikalisiert, flüchtet er sich in Drogensucht und zahllose Affären. Der Umzug nach Berlin nach vier Jahren sollte für beide ein Neuanfang werden, doch da tritt Andreas Baader in Ensslins Leben. Baaders gewaltsame Befreiung aus der Haft 1970, gemeinhin als Geburtsstunde der RAF angesehen, wird in Veiels Film den Schluss bilden.

Ein spekulativer Kassenknüller im Gefolge von Uli Edels »Der Baader Meinhof Komplex« ist also nicht zu erwarten, denn um leicht konsumierbares Kino ging es Veiel noch nie. So will er in die Spielfilmhandlung Blöcke von Archivmaterial einstreuen, »die den Film quasi zerschießen, auch in seiner Dramaturgie, also die Handlung unterbrechen«. Mit seiner Kamerafrau Judith Kaufmann hat er sich verabredet, auf Großaufnahmen und die damit bewirkte Emotionalisierung weitgehend zu verzichten. Gedreht wird im superbreiten Kinoformat an 42 Drehtagen bis Mitte Juni an Originalschauplätzen in Tübingen, derzeit in Berlin, später in Schleswig-Holstein. Inzwischen stehen an der Gedächtniskirche die Komparsen auf ihren Positionen, Lauzemis und Fehling als brav biederes Liebespaar getarnt mitten drin. Ein paar Mal wird geprobt, dann heißt es »Ruhe bitte! Wir drehen!« Aber 50 Statisten und ein kaum kalkulierbarer Wind, da geht und fliegt nicht alles auf Anhieb wie von der Regie gewünscht. Die Flugblätter werden wieder eingesammelt für einen neuen Anlauf, irgendwann ist die Einstellung »im Kasten«.

Wenn alle im Drehbuch vorgesehenen 172 »Bilder« bis zur geplanten Fertigstellung im Januar 2011 die Postproduktion überleben, ergäbe dies fast zweieinhalb Kinostunden. Produzent Kufus: »Da werden wir wohl noch etwas kürzer werden müssen. Aber in den üblichen 90 Minuten lässt sich so eine große Geschichte sicher nicht erzählen.«

Zwar ist ein Vertrag mit dem Delphi-Verleih durch dessen Insolvenz gerade geplatzt, aber Kufus ist zuversichtlich, eine andere gute Lösung zu finden. Und vielleicht zeigt Berlinale-Chef Dieter Kosslick mal wieder Mut.

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