Wem gehört der Dichter Roquet Dalton?

Eine Tragödie aus El Salvador: Ein Poet wird von den eigenen Genossen hingerichtet ...

  • Erich Hackl
  • Lesedauer: 8 Min.
Er stammte aus einem Land, das so klein ist, dass es seiner Beschreibung zufolge »weder Norden noch Süden hat«, und gilt als einer der größten Dichter aller Zeiten: der Schriftsteller und Revolutionär Roque Dalton, der dieser Tage 75 Jahre alt geworden wäre. Am 10. Mai 1975, vier Tage vor seinem 40. Geburtstag, wurde er erschossen, aber nicht im Auftrag seiner Feinde, der Diktatoren und Oligarchen seines Heimatlandes El Salvador, sondern von den eigenen Genossen der Revolutionären Volksarmee ERP, die sich fünf Jahre später mit vier weiteren Guerillaorganisationen zur FMLN, der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí, verbünden sollte. Dann begann der Befreiungskrieg gegen die Militärs und Todesschwadronen, der 1992 mit 70 000 Toten und der moralischen Erschöpfung aller Überlebenden enden sollte.

Die Nachricht von Daltons Tod wurde von seinen Schriftstellerfreunden in Amerika und Europa zuerst ungläubig, dann mit Erbitterung aufgenommen. Anfangs verdächtigte man die CIA der Tat, nicht ohne Grund, schließlich war dem Lyriker von einem Agenten des Geheimdienstes angedroht worden, dass man ihn mittels konstruierter Beweise als Verräter präsentieren werde, was viel effektiver wäre, als ihn kurzerhand umzubringen und solcherart zum Märtyrer zu adeln. Diese Szene ist in Daltons einzigen Roman »Armer kleiner Dichter, der ich war« eingegangen: »Deine Partei weiß nicht, dass wir diese ganze Flut an Informationen über ihre subversiven Pläne und internationalen Kontakte besitzen. Wir werden ihr mit Hilfe von infiltrierten Leuten und andern uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu verstehen geben, dass du uns diese ganzen Informationen zugespielt hast. Wir werden sagen, bevor du gestorben seist, hättest du versucht, deine Haut zu retten und hättest geredet, verraten, deine Genossen denunziert. Nicht als Held, als Verräter wirst du in der Geschichte dastehen. Und nicht nur als Verräter, sondern außerdem als Feigling und als Dummkopf, denn trotz des ganzen Verrats wird es dir nicht mal gelungen sein, dein Leben zu retten.«

Zweimal wurde Roque Dalton, der mit zwanzig der Kommunistischen Partei beigetreten war, zum Tode verurteilt und entging durch Zufall dem ihm zugedachten Schicksal. Zuerst 1960, weil der damalige Präsident José María Lemus am Vortag des Hinrichtungstermins gestürzt worden war, das zweite Mal fünf Jahre später, als ein Erdbeben – vier Tage vor dem Exekutionstermin – die Gefängnismauern zum Einsturz brachte, so dass Dalton fliehen konnte.

Die längste Zeit seines Erwachsenenlebens verbrachten er und seine Frau Aída in der Verbannung, in Mexiko, Kuba, der CSSR. In Havanna, das in den sechziger Jahren vor schöpferischem Elan vibrierte und Anfang der Siebziger in Bürokratismus versank, wurde ihre Wohnung zum Fluchtort rebellischer Intellektueller aus ganz Lateinamerika. Aber den weltoffenen Blick eignete sich Dalton schon als blutjunger Student in San Salvador an, wo er ab 1955 eine Gruppe ebenso welthungriger, avantgardistisch gestimmter und politisch aktiver Schriftsteller um sich geschart hatte, den Guatemalteken Otto René Castillo, der Jahre später in der DDR Zuflucht fand und noch später von Soldaten seines Landes bei lebendigem Leib verbrannt wurde, seine Landsleute Roberto Armijo, Manlio Argueta, José Roberto Cea und Tirso Canales, die ebenfalls Verfolgung, Folter und Exil erlitten.

Die wechselseitige Durchdringung von Engagement und Erneuerung ist typisch für die lateinamerikanische Literatur des vergangenen Jahrhunderts; aber kaum einer hat sie derart souverän, mit Ironie, schwarzem Humor und beißendem Spott, zuwege gebracht wie der uneheliche Sohn eines texanischen Millionärs und einer salvadorianischen Krankenschwester. Seinem in Prag konzipierten Gedichtband »Taberna y otros poemas«, von dem nur eine Hälfte (»y otros poemas/und andere Gedichte«) auf deutsch erschienen ist, steht eine Widmung an seinen jüngsten Sohn voran: »Lieber Jorge! Ich bin über die Poesie zur Revolution gelangt. Du wirst (falls du es willst, falls du spürst, dass du es brauchst) zur Poesie über die Revolution gelangen. Du bist deshalb im Vorteil. Aber denk daran, wenn es irgendwann einen speziellen Grund dafür gibt, dass dich meine Gesellschaft im Kampf freut, dass dies ein wenig auch der Poesie zu verdanken ist.« Der Dichtung, die den ewigen Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach Schönheit (die Eros und Liebe einschließt), und dem Bedürfnis, die gesellschaftlichen Verhältnisse umzukehren, nicht aufhebt oder zudeckt, sondern deutlich macht. »O Schmetterlinge, um zu verstummen!/ Ah Ämter der Revolution!«, heißt es in einem Gedicht. Aber dann, als ironisches Aperçu, die persönliche Entscheidung, Gerechtigkeit mit Gewalt, im Widerstand zu erzwingen: »Was mich betrifft: ich kauf mir eine Pistole.«

Roque Dalton trug die Pistole noch bei sich, als er vom Führungsgremium der ERP zum Tode verurteilt wurde. Er soll sie, in einem Versteck im Stadtteil Santa Anita von San Salvador, seinen Mördern ausgehändigt haben. Vielleicht erkannte er nicht den Ernst der Lage. Oder er hat seine bevorstehende Exekution als Déjà-vu wahrgenommen, in Erinnerung an die einstige Drohung des CIA-Agenten, die sich nun erfüllen würde. Auf jeden Fall war es aussichtslos, die vermeintlichen Genossen von ihrem Vorhaben abzuhalten. Über deren Beweggründe herrscht nach wie vor Unklarheit. Verrat, Disziplinlosigkeit, Aufforderung zur Desertion, kleinbürgerliche Praktiken, das sollen die Vorwürfe gewesen sein, die beim Tribunal vorgebracht und nach der Vollstreckung des Urteils – mit Dalton traf es auch den Guatemalteken Armando Arteaga – in einem Kommuniqué als erwiesen verbreitet wurden.

Die Theater- und Filmemacherin Tina Leisch dürfte nicht unrecht haben, wenn sie als Tatmotive auch »Neid und Eifersucht jüngerer ERP-Politiker, die weniger intelligent, charmant, poetisch, weltgewandt und gebildet waren als Roque«, in Betracht zieht, dazu die »militaristische und stalinistische Verblödung seiner Mörder«.

Einer der damaligen Richter war Joaquín Villalobos, der sich längst von der subversiven auf die Seite der repressiven Gewalt geschlagen und die Präsidenten Kolumbiens und Mexikos in der sogenannten Terrorbekämpfung beraten hat. Ein anderer, Alejandro Rivas Mira, ist spurlos verschwunden, nachdem er von der Guerilla desertiert ist. Gerüchten zufolge ist er entweder gefallen oder nach einem chirurgischen Eingriff, der ihm ein neues Aussehen verlieh, irgendwo in Europa untergetaucht. Der dritte, Vladimir Rogel, wurde später selbst in einem Parteiverfahren zum Tode verurteilt und erschossen. Jorge Meléndez war der vierte, der das Urteil über Roque Dalton gefällt hatte. Er ist vom jetzigen Präsidenten El Salvadors, Mauricio Funes, zum Direktor für Zivilschutz bestellt worden. Während Villalobos gegenüber Daltons Sohn Juan José 1993 die Hinrichtung als »schweren Irrtum« bedauert und mit der jugendlichen Unreife der Guerrilleros erklärt hat, ist sich Meléndez weiterhin keiner Schuld bewusst. Dieser Tage hat er in einem Interview mit dem Journalisten Tomás Andreu die Exekution Daltons als kollaterale Lappalie kleingeredet. »Ich kann mich an keine Ermordung Roque Daltons erinnern, ich erinnere mich an politische Vorgänge, die mit dem Tod einiger Personen endeten, darunter Roque Dalton.«

Er weigerte sich, Details über das Verbrechen, und was nachher mit dem Leichnam des Dichters geschehen ist, bekanntzugeben. Irgendwann werde er sich darüber äußern, zu einem von ihm selbst bestimmten Zeitpunkt.

Die Forderung von Daltons Söhnen, Meléndez als einen der Mörder ihres Vaters seines Amtes zu entheben, hat der Staatspräsident zurückgewiesen. Es gelte die Unschuldsvermutung. Aber gleichzeitig gibt es von Regierungsseite, und immerhin ist Funes als Kandidat der linken FMLN in sein Amt gewählt worden, keine Initiative, um das Verbrechen an Salvadors Nationaldichter aufzuklären und dessen sterblichen Überreste ausfindig zu machen.

Weil die Familie daraufhin erklärte, die offiziellen Veranstaltungen im heurigen Roque-Dalton-Jahr zu boykottieren, und den Präsidenten aufforderte, seine Ansprachen nicht länger mit Dalton-Zitaten zu spicken, erklärte Funes in kühner Gleichsetzung von pueblo und presidente: »So oft ich Verse des Dichters Roque Dalton in Reden zitieren möchte, werde ich das tun, weil er ein Kulturgut meines Landes ist. Dalton gehört nicht mehr seiner Witwe und nicht seinen Söhnen, sondern dem Volk.«

Diese Position blieb innerhalb der FMLN nicht unwidersprochen. Die Parlamentsabgeordnete Nidia Díaz, eine ehemalige Guerillakommandantin, hat darauf hingewiesen, dass noch achttausend Familien auf Nachricht über ihre verschwundenen, toten Angehörigen warten. Der Fall Roque Dalton sei also nur einer unter vielen aufklärungswürdigen, ein besonders wichtiger freilich, bei einem Revolutionär seines Formats. Und am Rande einer Gedenkmesse für den unerbittlich antiklerikalen Dichter, an dessen 35. Todestag, meinte der Menschenrechtsbeauftragte der Zentralamerikanischen Universität, Benjamín Cuéllar, dass Roque Dalton tatsächlich dem salvadorianischen Volk zustehe. »Aber das Volk hat auch Anspruch auf Gerechtigkeit, Reparation, Wahrheitsfindung. Auf das Ende der Straflosigkeit. Die Familie Dalton trägt durch ihr Verhalten dazu bei, daß sich unser Land wirklich ändert.«

Angenommen, der Dichter könnte die Debatte von seinem revolutionären Jenseits aus verfolgen. Dann wäre er vermutlich erstaunt darüber, wie umstritten die Aufarbeitung der Geschichte innerhalb der Linken ist, die sich ansonsten immer und überall mit der Schlussstrichpolitik rechtsgerichteter Kreise herumschlagen muss.

Er wäre ebenso erstaunt zu hören, dass sein alter Freund Silvio Rodríguez, der kubanische Liedermacher, der sich mit der Familie Dalton solidarisiert hat, unlängst den ersten Buchstaben im Wort Revolution gestrichen haben wollte. Dass sein Sohn Jorge Parallelen zog zwischen dem, was ihm, Roque, in El Salvador und dem dissidenten Autor Raúl Rivero – ebenfalls ein alter, treuer Freund der Familie – in Kuba angetan worden war. Würde ihn das alles verwirren, aufwühlen, zur ideologischen Wende bekehren? »Nur das Staunen erhält mir das Leben«, hat er einmal geschrieben. »Nur das Staunen säubert den Blick des Toten.«

ERICH HACKL, 1954 in Steyr (Österreich) geb., lebt als Schriftsteller in Madrid und Wien. Er ist Autor bei Diogenes.

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