Die toten Augen vom Ruhrpott

Studierende sollten sich wieder ihrer Hauptaufgabe widmen, findet Thomas Blum: Bücher lesen

So gehört sich das.
So gehört sich das.

Eine Freundin von mir, Lydia, ist Hochschullehrerin. Sie arbeitet an einer Universität im Ruhrgebiet. Neulich schilderte sie mir folgendes interessantes Erlebnis mit Studierenden: Einige jener Polit-Aktivisten, die – wie es heute unter Studierenden Mode zu sein scheint – das Denken erfolgreich durch das Brüllen pathosgetränkter Parolen ersetzt haben, beschwerten sich bei der Hochschulleitung darüber, dass deren offizielle Stellungnahme zum von islamistischen Terroristen in Israel verübten Massaker vom 7. Oktober 2023 »zu einseitig« ausgefallen sei, und verlangten, dass die eine oder andere Passage »überarbeitet« werden solle.

Die Aktivisten, so teilte mir Lydia mit, hätten Anstoß daran genommen, dass in der besagten Stellungnahme die vergewaltigten, verstümmelten und ermordeten Zivilisten nicht ausreichend als zionistische Unterdrücker und die Vergewaltiger und Mörder nicht ausreichend als aufrechte kämpferische Widerständler gekennzeichnet wurden. Denn im gleichen Maß, in dem unter Studierenden, die sich in ihrer Freizeit für Weltverbesserung engagieren und sich zu ehrenamtlichen Völkerrechtsexperten weiterbilden, die Bereitschaft zum Denken abgenommen hat, scheint die Vorliebe für empört in die Luft gereckte Fäuste, Blut-und-Boden-Sprechchöre, feierlich im Wind wehende Fahnen, völkische Folklore und anderen Kitsch zugenommen zu haben.

»Ja, wir wollten ja die Knesset in die Luft sprengen. Wir haben auch einen Antrag auf Durchführung eines Anschlags gestellt, aber die israelische Regierung hat gesagt, wir dürfen nicht.«

Nun, wie dem auch sei: Ein der Hochschulleitung angehörender Professor hörte sich die Beschwerden der Polit-Aktivisten geduldig an und machte ihnen daraufhin den, wie ich finde, ausgezeichneten Vorschlag, dass sie doch einfach einen öffentlichen Protest veranstalten sollten, auf welchen dann wiederum die Hochschulleitung entsprechend reagieren könne. Hierauf soll der Anführer der Polit-Aktivisten geantwortet haben: »Ja, wir wollten ja. Wir haben auch einen Antrag auf Durchführung einer Protestveranstaltung gestellt, aber die Uni-Leitung hat gesagt, wir dürfen nicht.«

Das ist eine sehr schöne Antwort, der man anmerkt, dass wir es hier mit deutschen Polit-Aktivisten zu tun haben. Man wünscht sich spontan ein ähnliches Autoritätsverständnis bei Hamas-Terroristen: »Ja, wir wollten ja die Knesset in die Luft sprengen. Wir haben auch einen Antrag auf Durchführung eines Anschlags gestellt, aber die israelische Regierung hat gesagt, wir dürfen nicht.«

Wünschenswert wäre jedenfalls, dass die gigantische Menge an Energie, die in diesem studentischen Milieu gegenwärtig in das Spazierentragen von anrüchig beschrifteten Bettlaken und Flaggen von zweifelhaftem Ruf und das Verfassen ebenso verquaster wie unlesbarer Aufrufe fließt, auf Sinnvolles verwendet würde. Zum Beispiel auf jene Tätigkeit, der sie eigentlich, wäre die Welt nicht vor einiger Zeit verrückt geworden, am meisten Zeit widmen sollten: das Lesen.

Doch das Lesen – wie gesagt: ursprünglich eine Beschäftigung, die an Hochschulen nicht unüblich war – ist eine Fähigkeit, die heute unter Studierenden nahezu ausgestorben ist. Zugegeben: Es handelt sich dabei um einen komplexen Prozess, der sowohl das Erkennen von Zeichen (»Buchstaben«, »Satzzeichen«) als auch das Verstehen ihrer Bedeutung beinhaltet. Es erfordert ein Minimum an Konzentration, die nicht leicht aufzubringen ist von Menschen, die alte Kulturtechniken wie das »Aufschlagen« von »Büchern« und das »Umblättern« von »Seiten« nie gelernt haben.

Dass jemand nicht liest, so meine These, merkt man seinem Sprechen an. Kürzlich belauschte ich während eines Nachmittags am Seeufer etwas, das unter drei Studierenden stattfand und das entfernt einem Gespräch ähnelte. Eine Hochschülerin sagte: »Ich bin dann megaspät ins Bett und war ultrastoned, und dann musste ich megafrüh aufstehen und war dann ultragenervt, aber die Party war megageil.« Ich zitiere nur diese Passage, der Anschaulichkeit wegen. Tatsächlich ging das noch eine ganze Weile so weiter.

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

»Es sind tote Augen, die mich ansehen. Es sind die Augen von Toten.« So beschreibt Lydia, die eingangs erwähnte Hochschullehrerin, die Reaktion ihrer Studenten, wenn diese aufgefordert werden, die dreieinhalb Seiten Text zusammenzufassen, deren Lektüre ihnen in der Woche zuvor aufgetragen wurde. Oder vielleicht sollte man besser sagen: vorgeschlagen wurde. Die Erklärungen, warum sie die läppischen drei Seiten nicht gelesen haben, sind vielfältig: »Keine Zeit.« »Zu viel Text.« »Zu anstrengend.« »Gibt’s das auch als Film?«

»Manchmal zeige ich einfach Filme. Je kürzer und simpler, desto besser. Das geht gerade noch, was die Aufmerksamkeitsspanne angeht«, erzählt Lydia. »Schade eigentlich«, antworte ich ihr, »dass es keine Folge der ›Sendung mit der Maus‹ gibt, in der Antisemitismus einfach und studentengerecht erklärt wird.«

Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft die Hochschulen und deren Bibliotheken nicht ausnahmslos allen Menschen offenstehen sollten, auch jenen, die aus freiem Willen und gerne lesen.

Sicher ist jedenfalls: Spontane Revolten, Aufstände und sonstige Widerstandsakte müssen in Deutschland auch künftig nicht zwingend bei einer Behörde oder der Regierung beantragt werden.

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