Klopf ich beim Kerl, der Särge macht...

Russische Lyrik aus kleinen Verlagen – Leningedichte und Dorfgeschichten

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf den ersten Blick scheint die russische Lyrik in deutschen Übersetzungen gut repräsentiert. Schaut man jedoch genauer hin, trifft das nur für die erste Reihe zu – Blok, Achmatowa, Mandelstam, Pasternak, Zwetajewa, Majakowski und Jessenin, um nur die wichtigsten Dichter vom Anfang des 20. Jahrhunderts zu nennen. Autoren wie Annenski oder Kljujew aber sind selten oder gar nicht auf dem deutschen Buchmarkt zu finden. Um so mehr Anerkennung verdienen zwei kleine Verlage, die jetzt anspruchsvolle Ausgaben dieser Lyriker herausgegeben haben.

Die Edition Rugerup des schwedischen Nimrod Verlags brachte in der Übersetzung von Martina Jakobson den zweisprachigen Gedichtband »Wolkenrauch« von Innokenti Annenski (1855-1909) heraus. Der langjährige Direktor des Gymnasiums von Zarskoje Selo veröffentlichte seine erste Lyriksammlung »Stille Lieder« mit 49 Jahren, die zweite – »Das Zypressenkästchen« – erschien 1910 postum. Seine Themen waren der Blätterfall, das Verwelken, Herbst, Tod, Wehmut, eine Endzeitstimmung, die durch konkrete Details sowie eine gezielt eingesetzte Farbpalette und Lautstruktur evoziert wird. Damit wirkte Annenski in die Zukunft. Achmatowa, Gumiljow und Mandelstam entwickelten nach seinem Beispiel die Poetik der Klarheit, die sie Akmeismus nannten. Chlebnikow, Majakowski und Pasternak schufen aus seinen »Dreiblättern« und »Zweiblättern« assoziativ gesteuerte Kompositionen, die futuristische Montagetechnik.

Annenski platziert im »Dreiblatt der Verführung« neben dem Bild des roten Mohns (»Verführung im Übermaß, ausgewickelte Flügel eines Falters in Purpur«) und dem Beziehungsdrama zwischen den zärtlichen Saiten und dem Geigenbogen den Morgen der Liebe (»wenn unter den schlafenden Blättern die Erde in grell schwarzer Nacktheit erwacht«). Weder Achmatowas Lyrikbände »Abend« und »Rosenkranz« noch Pasternaks Zyklus »Meine Schwester – du Leben« wären ohne diese poetischen Vorleistungen ihres Lehrers zustande gekommen.

Im Schweinfurter Wiesenburg Verlag erschien die zweisprachige Lyriksammlung »O Russland – das bist du!« von Nikolai Kljujew (1884-1937). Dessen Schaffen wurde von der Dorflandschaft und Sagenwelt des nordwestrussischen Gouvernements Olonez sowie den Ritualen der Altgläubigen geprägt. Nach Beginn seines Briefwechsels mit Blok eignete sich Kljujew die künstlerischen Verfahren der Symbolisten an, die er mit seiner Vorliebe für den Gebrauch der archaischen Bauernsprache verband. 1915 freundete er sich mit Jessenin an.

Kljujew sympathisierte mit der sozialrevolutionären Schriftstellergruppe »Skythen«, die einen christlich-bäuerlichen Sozialismus anstrebte. 1918 wurde er Bolschewik und schrieb eine »Hymne auf die große Rote Armee«. Wegen seiner Religiosität wurde er 1920 aus der Partei ausgeschlossen. Nach einem unsteten Hungerleben ließ er sich 1923 in Petrograd nieder, wo er seine bescheidene Behausung wie eine Bauernstube einrichtete.

1924 erschienen Kljujews Leningedichte, 1926 die »Wehklage um Sergej Jessenin«, der Selbstmord verübt hatte. Nach dem Bekanntwerden des Gedichts »Das Dorf« (1927) wurde Kljujew in der Presse als »Kulakendichter« beschimpft, seine Werke wurden verboten und verschwanden aus Buchläden und Bibliotheken. Neue Texte konnte er nicht mehr veröffentlichen – weder das Poem »Das verbrannte Land«, das ein Dorf zeigt, dessen gottesfürchtige Bewohner von »Sarazenen« überfallen werden, noch »Gamajuns Lied«, das vom »Weißmeer-Todeskanal« berichtet.

Für die offizielle Literaturkritik war der tief religiöse und homosexuelle Kljujew ein »feindliches Element«. 1934 wurde er wegen »antisowjetischer Propaganda« nach Tomsk verbannt. Beschuldigt, an einer »konterrevolutionären Verschwörung« beteiligt zu sein, wurde er 1937 erschossen.

Hartmut Löffel, um Rhythmus, Wohlklang und Verständlichkeit bemüht, hat 28 Gedichte einfühlsam übersetzt und damit die erste Auswahl aus dem Schaffen Kljujews in Deutschland herausgebracht. In den meist zwischen 1907 und 1916 entstandenen Texten ist der Dichter mit den Jahreszeiten, Wäldern und Feldern, Birken und Kiefern, Gras und Blumen auf du und du. Häufige Motive sind das Weiße Meer mit der »Trauminsel Solowezk« und die Mutter am Spinnrad. Gott, der Teufel und die Heiligen bewegen sich wie selbstverständlich unter den Menschen.

Das abschließende Gedicht von 1937 zeigt, wie dem verbannten Kljujew zumute war: »Ich tapp am düsteren Wald entlang,/ die Krücke verschwand in der Nacht,/ und wie der Kuckuck im Sprechgesang/ klopf ich beim Kerl, der Särge macht .../ da les ich die Schrift: N. A. Kljujew,/ der Sänger der Bauernhütten!«

Innokentij Annenskij: Wolkenrauch. Gedichte. Aus dem Russ. übertragen und hrsg. von Martina Jakobson. Edition Rugerup. 158 S., kart., 19,90 €.

Nikolai Kljujew: O Russland – das bist du! Ausgewählte Gedichte. Übersetzt und hrsg. von Hartmut Löffel. Mit drei Gedichten von Valerij Domanskij. Wiesenburg Verlag. 104 S., geb. 14,90 €.

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