Vom Brauch und vom Missbrauch

Rituale – Sinn und Unsinn der Gewöhnung

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 5 Min.

Der staatlich verordnete Antifaschismus, das rituelle Gedenken – als vor einiger Zeit der Bund der Antifaschisten sein Gründungsjubiläum feierte, wurden die Stanzen der Verdammnis wieder aufgesagt. Ehemals Verfolgte, andere Gleichaltrige und Jüngere, die sich der Lehren aus dem irren, dem mörderischen Hitlerismus angenommen haben, weisen die Schmähungen ihrer antifaschistischen Grundhaltung empört zurück. Das ist von Herzen aufrichtig, sie tun recht daran.

Aber hatten die Kranzniederlegungen, die stereotypen Gedenkreden, die Mahnmal-Meetings in der verblichenen Republik nicht doch einen beiläufig rituellen Charakter? Und wenn, was wäre falsch daran? Schließlich ist ein staatlich verordneter Antifaschismus moralisch eher gerechtfertigt als ein staatlich verordnetes Schweigen und Verdrängen nationalsozialistischer Täterschaft, wie es in der Bundesrepublik über Jahrzehnte praktiziert wurde.

Trotzdem haben wir ein ungutes Gefühl, wenn eine Sache zum Ritual wird. Weil dann das Pflichtgemäße überwiegt. Der eigentliche Sinn verlorengeht. Der innere Bezug, die Empathie verblasst hinter formalen Handlungen. Das kann so weit gehen, dass Menschen an einem Ritus teinehmen, ohne von dessen Botschaft wirklich überzeugt zu sein: Der Gottesdienst aus purer Gewohnheit. Oder Fahnenappelle, Fackelzüge, Jubelchöre vor Tribünen – »Erich, Erich!«, »Helmut, Helmut!«, weil es Usus ist, vor der Galionsfigur zu blöken.

Rituale oder, um das mildere Wort zu gebrauchen, ritualisiertes Verhalten gilt dem modernen Bürger als Ausdruck von Erstarrung, eine Art kultureller Wurmfortsatz. Und dennoch frönt er geradezu respekt- und ehrfurchtsvoll der Wiederholung aus Prinzip. Wo wir hinschauen: Alltagsrituale, Übergangsrituale (Konfirmation, Erstkommunion, Jugendweihe), Heilrituale, politische Rituale, Machtrituale und vieles mehr. Warum?

Weil sich die Beteiligten Vorteile versprechen. Dieser Ambivalenz – negativ als Kreativitätshemmnis, positiv als Stimulanz zu wirken – hatte die Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung kürzlich ihr 14. Berliner Kolloquium gewidmet. Motto: Braucht der Mensch Rituale? Antwort, trotz Differenzen bei der Interpretation des Begriffs: Ja, ohne Rituale kommen wir nicht aus. Sie helfen das Leben organisieren, fördern Gemeinschaftsempfinden, machen abstrakte Vorstellungen sinnlich fassbar.

Oft sind wir uns gar nicht bewusst, wie weitgehend unser Handeln ritualisiert ist. Wer der guten alten Sitte gehorcht, an Verwandte und Bekannte, mit denen er übers Jahr kaum ein Wort gewechselt hat, wenigstens zum Geburtstag und zu Weihnachten Glückwunschkarten zu schreiben oder eine E-Mail zu senden, denkt nicht an verhaltenspsychologische Kategorien, sondern ist vollauf damit befasst, wie er die gewohnten Floskeln glaubwürdig rüberbringt und mit ein paar persönlichen Worten verbinden kann.

Natürlich ist das ein Ritual, dessen Förmlichkeit, sofern sich die Partner räumlich oder seelisch auseinandergelebt haben, kaum zu überbieten ist. Aber gäbe es dies nicht, würden sie vielleicht überhaupt nicht mehr kommunizieren. So paart sich die Standardisierung einer Form mit der Funktion, Zugehörigkeit zu bekunden, zu erhalten, zu festigen. Und – auch das kann dem trivialen Beispiel entnommen werden – ein Ritual richtet ein bestimmter Adressant stets an bestimmte konkrete Menschen.

So jedenfalls das Verständnis der Kulturwissenschaftler. Für sie gehören Rituale zur »Conditio humana, zur Natur des Menschen«, wie Axel Michaels vom Sonderforschungsbereich Ritualdynamik an der Universität Heidelberg ausführte »Es liegt nahe, die Nützlichkeit von Ritualen mit bestimmten emotionalen Erfahrungen, Gedächtnisleistungen sowie möglichen psychologischen Entlastungsfunktionen des Gehirns in Verbindung zu bringen.«

Schwierig wird es, wenn der Initiator eine Institution, gar eine Institution der politischen oder ökonomischen Macht ist. Da erlangen die negativen Wirkungen der Kanalisierung, der Verselbständigung und Routine gesellschaftliche Relevanz. Längst ist die Delegitimierung alles dessen, was mit der DDR zu tun hat, ein Ritual geworden. Aber genormtes absichtsvolles Handeln, das mit einer symbolhaften Überhöhung einhergeht, lässt sich auch in Bereichen nachweisen, wo man es nicht vermutet, etwa in der Wirtschaft. Der Sozialwissenschaftler und Unternehmensberater Jürgen Häusler sieht in den Abläufen, wie Vorstandsentscheidungen zustandekommen, wie Beratergremien zusammengesetzt werden – »Das ist wie Theater« –, in der Tatsache, dass Marketingchefs großer Konzerne im Durchschnitt alle zwei Jahre ausgewechselt werden, ohne sachbezoge Kriterien anzulegen, ein stark ritualisiertes Verhalten.

Wie geht man nun in einer Gemeinschaft mit Ritualen um? Wir sind verunsichert, eben weil viele Gedenkveranstaltungen in den letzten Jahren der DDR nur noch wie eine Liturgie inszeniert wurden und weil das Anliegen mit Machtspielchen überdeckt wurde. Dass sich auf der jährlichen Luxemburg-Liebknecht-Kundgebung in Berlin das Politbüro vor dem Grabmal postierte und zuwinken ließ, statt allen Raum und alle Zeit für die innere Einkehr in die Aura der Ermordeten offenzuhalten, machte die Instrumentalisierung eines ehrenwerten Brauchs besonders deutlich. Es kommt also auf die Art und Weise an, auf das »Wie«, das Ludwig Feuerbach in emotionalen und erkenntnishaften Vorgängen für entscheidend hielt.

Wenn die Verhaltensforschung in letzter Zeit Rituale, vorausgesetzt, sie vermitteln keine menschenverachtenden Inhalte, eher positiv wertet, als gesellschaftliche Normalität, ja Notwendigkeit für den Zusammenhalt, dann muss man sich ihrer nicht schämen, dann kann man sie auch guten Gewissens betreiben. Dann ist Besinnung, Pathos, Einkehr nicht nur erlaubt, sondern gewünscht.

Einerseits findet der Einzelne seine Anschauungen bestätigt. Er fühlt sich wohl in der Gruppe, der er angehört – sei es ein Verein, eine Kundgebung oder Parteiversammlung – und schöpft aus symbolischen oder anderweitig »erhabenen« Handlungen Kraft, um in konfliktreicher Welt zu bestehen. Andererseits ist es auch eine Abgrenzung gegenüber Nichtzugehörigen, die die Gefahr der Separierung in sich birgt. Fragwürdig wird das Ritual, wenn der Bezug zu dem, was vermittelt werden soll, indifferent wird oder gar verlorengeht. Aber eine saubere Botschaft, aufrichtiges Bekennen, Identifikation mit Herz und klarem Verstand für eine würdige Sache schaden uns nicht.

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